Ein Beitrag im Rahmen des Vortrages zu Grünem Journalismus auf der Konferenz zu Großer Transformation und Medien von der Evangelischen Bildungsstätte und FU Berlin sowie Manfred Ronzheimer

ALLGEMEINE BEMERKUNGEN

1 – Begriffsüberschätzungen: Auf „Nachhaltigkeit (NH)“ können sich meisten Medienakteure einigen. Begriffe wie Große Transformation und Anthropozän bleiben dagegen in der journalistischen Nische und – in Fachkreisen oft unterschätzt – dem breiten Publikum gänzlich unbekannt.

2 – Nachhaltigkeit als universeller Wert: Aus der umfassenden Bedeutung der Erdabhängigkeit, in der menschliche Gesellschaften existentiell stehen und die das Anthropozän neu auf die Agenda setzt, ergibt sich eine Sicht auf Nachhaltige Entwicklung als eine zivilisatorische Errungenschaft und universelle Wertigkeit für alle Systeme. Sie steht (kulturelle Anzeiger) seit 300 Jahren in der Öffentlichkeit, wird zunehmend diskutiert und bringt neue Lebensstile und Milieus hervor. Zudem hat Nachhaltigkeit bereits tiefen Eingang in regionale, nationale und globale Rechtsregime, Politikprogramme sowie in Märkte und Unternehmen gefunden (juristisch-politisch-ökonomische Anzeiger). Nachhaltigkeit ist damit informell wie formell Teil der gesellschaftlichen, politischen, rechtlichen und ökonomischen Kultur vieler Länder und internationaler Organisationen geworden. Deshalb ist sie, vergleichbar mit der Demokratie, ein universelles Leitbild, das starke Wertedimension in sich trägt.

3 – NH = holistische Dimension, kein Einzelthema: Nachhaltigkeit wird durch ihre übergeordnete Bedeutung zu einer holistischen, überall einzusetzenden Betrachtungsdimension. Somit steht sie auch nicht in irgendeiner Art von Konkurrenz zu geschlossenen Einzelthemen. Die journalistische Frage, ob man mehr oder weniger über Nachhaltigkeit berichten soll, stellt sich nach diesem Verständnis nicht, da sie als Perspektive in Nachrichtenauswahl und -bearbeitung immer ihren Platz hat – begriffliche benannt oder in ihren Funktionen beschrieben, wenn es um die Einzelthemen im Kosmos der Nachhaltigkeit geht.

4 -Für Starke Nachhaltigkeit und Erdprimat: Durch das Bild der Erdabhängigkeit entsteht ein natürlicher Betrachtungsrahmen auf die drei Nachhaltigkeitsdimensionen (Ökonomie, Soziales, Ökologie), die stets angedacht und in Beziehung gesetzt werden müssen. Ihre Wechselbeziehungen sowie Einzelprozesse geschehen aber innerhalb der planetaren Grenzen, woraus sich die Notwendigkeit für eine sogenannte starke Nachhaltigkeit in der Begriffsdebatte ergibt. Nachhaltigkeit ist darüber hinaus mit Lebensqualität zu verbinden. Erst so wird klarer, dass es über die drei bekannten Dimensionen hinaus um die Rückgewinnung verlorener Freiheiten ebenso geht wie um Partizipation, Gerechtigkeit, Genügsamkeit und Zeitwohlstand (Eine genauere Beschreibung dieses Verständnis von Nachhaltigkeit als Freiheitsbegriff ist bei Grüner-Journalismus unter den Dossiers beschrieben und visualisiert).

5 – NH als Begriff: Empathie + Poesie statt Technokratie und Ökonomismus: Das Nachhaltigkeitsverständnis im öffentlichen Diskurs ist von technokratischen, ökonomischen und utilitaristischen, sachlichen und pragmatischen Perspektiven geprägt. Entsprechend viele Informationen und auch nachhaltigkeitsbezogenes Wissen ist entstanden. Gemessen daran ist eine Übersetzung in dementsprechendes politisches oder breites gesellschaftliches Handeln größtenteils noch ausgeblieben; allenfalls das neue, diffuse gesellschaftsgrüne Milieu gibt hier Anlass zur Hoffnung. Verhaltensveränderungen basieren häufig auf emotionalen Identifikationen mit dem Veränderungsstoff. Hier hat die technokratische Nachhaltigkeitsdebatte wenig zu bieten; es fehlt ihr an Motiven wie Empathie, Schönheit, Sehnsucht und Hingabe, an Poesie und Fantasie, Spiel und Freude. Dies sind Bezüge, die wir als Naturwesen in der Natur bewusst und unbewusst suchen; mit Edward Wilson lässt sich von der Biophilie sprechen. In der verdinglichten und rastlosen Interaktionsgesellschaft treten die Naturbezüge sogar immer mehr hervor, medial sichtbar geworden sind sie am überraschenden und immer noch anhalten Erfolg der Landhefte, die Natur in idealisierter Art als überschaubaren Rückzugs- und Ruheraum inszenieren. Aus einem Milieudünkel heraus hat die Journalismusforschung bisher kaum auf dieses Erfolgssegment geblickt.

6 – Natur-Kultur-Trennung abbauen, NH braucht mehr Lebendigkeit: Die Nachhaltigkeitsdebatte muss den sichtbaren Bedarf nach Naturnähe und ökologischer Reintegration in ihrem eigenen Interesse ernster nehmen und ihr kaltes Kleid abstreifen zugunsten einer Perspektive, die die Natur-Kultur-Trennung ab- und einen ganzheitlichen, sinnlichen Zugang zu Natur und Umwelt im Sinne einer Mitwelt aufbaut. Ein solcher Ansatz ermöglicht auch in viel besserer Weise eine neue Utopie- und Visionsfähigkeit, die im Transformationsdiskurs vielfach eingefordert wird. Entsprechende theoretisch-praktisch Verbundenheitskonzepte, die Anstöße zur Entwicklung einer solch sinnlichen Perspektive finden können, finden sich im amerikanischen Transzendentalismus, der Tiefenökologie ebenso wie im ökologischen Buddhismus, dem integralen Denken des Kommunikationswissenschaftlers Claus Eurich oder den Ansätzen der Erotischen Ökologie und des Enlivement des Naturphilosophen und Journalisten Andreas Weber.

JOURNALISMUS UND MEDIEN

1 – Neue Vermittlungsformen: Die Brücke zu einem lebendigeren Nachhaltigkeitsverständnis aus Basis eines holistisch-integralen Naturverständnisses können neue Vermittlungsformen schlagen, nach denen der Journalismus aus anderen Gründen (schwindende Auflagen, Quoten, Zugriffe; Wiederholungserfahrungen) bereits verstärkt sucht. Zu nennen wären hier aktuell und allgemeiner Storytelling, Scrollytelling, Comic Journalismus, Graphic Novels und literarische Erzählformen, die mehr Raum für Subjektivität und Empathie bieten.  Im thematischen Kontext der Nachhaltigkeit könnte neben themenbezogenen Erzählkonzepten und der Suche nach neuen Narrativen das angloamerikanische Genre des nature writing, welches subjektive und poetische Anschauung mit essayistischer Reflexion und sachlich-journalistischer Deskription verbindet, große Potenziale entfalten. Als literarisches Genre findet es gerade erfolgreich seinen Weg nach Deutschland. Als (umwelt-)journalistisches Genre ist es weitgehend unbekannt und in Theorie und Praxis bis auf wenige Experimente bisher nicht entwickelt, untersucht oder erprobt. Aus diesem Grund widmet sich Grüner-Journalismus aktuell dem neuen Genre auf mehreren Ebenen.

2 – Nachhaltigkeit (NH) + Journalismusforschung/Medienethik: Empirie da, Theorie fehlt: Die empirische Journalismusforschung hat zahlreiche empirische Arbeiten zum Themenfeld NH vorgelegt; v.a. zum Klimawandel sind Studien entstanden. Damit wird die Relevanz der globalen sozial-ökologischen Zusammenhänge endlich stärker anerkannt. Parallel dazu ist jedoch keine themenbezogene Theorieformulierung in der Journalistik entstanden; auch die Medienethik weist hier eine Lücke auf. Dies verwundert stark im Kontext von Themen wie Großer Transformation und Anthropozän, das als Fragestellung nach einem neuen Zeitalter die epochale Bedeutung der nachhaltigen Entwicklung als Antwort auf die Krisendiagnose unterstreicht. Vor diesem Bedeutungshintergrund ist im Fach sowie im praktischen Journalismus der Relevanzbegriff neu zu diskutieren. Das System der Nachrichtenfaktoren muss entsprechend einer Reform unterzogen werden. Dies könnte der Anfang eines kommunikationswissenschaftlichen Denkens im Sinn einer Journalistischen Ökologie und ökologischen Medienethik sein, die mit älteren Debatten zur Kommunikationsökologie sowie Ansätzen wie Slow Media und medialer Achtsamkeit zu verbinden wären.

3 – Ergrünte Medien, günstiges Zeitfenster: Deutsche Medien sind ergrünt. Der Nachhaltigkeitsbegriff taucht mittlerweile doppelt so oft in der Berichterstattung auf wie noch vor zwanzig Jahren (Univ. Lüneburg 2016). Auch auf Produktebene ist der Wandel sichtbar: Neue Printmagazine besetzen die grüne Nische, die auch auf eigene Weise durch den Erfolg der Landhefte breiter geworden ist. Online sind ebenfalls neue Portale entstanden. Damit waren die soziokulturellen Bedingungen noch nie so gut, Transformationsthemen in den gesellschaftlichen und journalistischen Mainstream zu tragen. Hauptimpuls sind die vielen, unsortierten sozialen und grünen Initiativen in Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Man kann von einem neuen Gesellschaftsgrün sprechen, ohne das damit aber eine politische Bewegung gemeint ist. Es fehlt an Vernetzung, gemeinsamen Plattformen und Positionen.

4 – Neue Metabene: Zudem ist rund um den Nachhaltigkeitsjournalismus eine Infrastruktur entstanden, die das grüne Mediengeschehen bewertet, fördert und untersucht. Getragen werden die Forschungsprojekte, Rechercheplattformen und Seminare von Stiftungen, Hochschulen und Akademien. Zugenommen haben ebenfalls grüne Journalistenpreise sowie umweltjournalistische Kurse privater Träger als auch von Hochschulen und Universitäten wie in in Ansbach, Nürnberg, St. Augustin, Darmstadt und Dortmund. Damit Journalismus weiter ein eigenes, sozial-ökologisches Denken aufbauen kann, muss die neu entstandene Metastruktur verstetigt werden. Denn viele Projekte sind nicht dauerhaft finanziert. Es wäre zu diskutieren, inwieweit dafür öffentliche Gelder zur Verfügung stehen.

5 – Allgemeine Ressourcenknappheit bearbeiten, öffentliche Medienfinanzierung neu denken: Systeme der öffentlichen Medienförderung haben in skandinavischen Ländern mit Erfolg kleine Redaktionen und Titel erhalten, gerade in der Provinz. Denn dort, in der Fläche und bei den vielen kleinen Medien, liegt auch in Deutschland das eigentliche Problem: eine durch extremes Sparen entstandene Knappheit der Ressourcen Geld, Personal und (Recherche)Zeit. In diesem Kontext ist es schwer, mehr Nachhaltigkeit im journalistischen Mainstream stärker zu verankern. Deshalb kommt eine ernsthafte Debatte über Journalismus und die Große Transformation nicht ohne die Frage nach alternativen Finanzierungswegen aus, die im marktliberalen Verlegergewerbe wenig beliebt ist. Doch Journalismus hat Verfassungsrang, ist zuerst gesellschaftsorientiertes Verantwortungshandeln. Deshalb braucht er an machen Stellen und in heftigen Krisenzeiten Hilfe, wenn er seine grundlegenden Funktionen (auch NH-Öffentlichkeit) erfüllen soll.

6 – Keine Vereinnahmung: Die journalistische Rollendebatte ist zwar transformationsaffiner geworden, dennoch wollen sich Journalisten ungern als „Transformationsagenten“ oder dergleichen bezeichnen lassen. Sie bleiben unabhängige Informationshandwerke, die allerdings ein wachsendes Gespür für den Bedarf nach einer Großen Transformation entwickelt haben.

7 – Neue Rollendebatte, mehr Offenheit für Engagement: Seine Rollenfrage diskutiert der Journalismus neu vor allem wegen der Bewegung des konstruktiven Journalismus, der stärker über Handlungsmöglichkeiten berichten will. Damit entsteht neuer Raum für eine offenere Rollendebatte eines Journalismus, der traditionell betont, dass man sich mit keiner Sache gemeinmachen dürfte, nicht mit einer guten (absolutes, rein individualethisches Neutralitätsdogma). Bei der „Sache“ wird nicht unterschieden, ob es sich um Einzelthemen oder um universellen Werte wie Demokratie oder Nachhaltigkeit handelt (s.o.).

IDEEN

  • Ausweitung der empirischen Journalismusforschung auf Themenfelder wie Erneuerbare, Mobilität, Ernährung, Landwirtschaft, Wildtiere, Böden
  • Aufbau erster Grundlagen einer ökologischen Medienethik durch Fachtagungen und Publikationen
  • Konferenz zu alternativer Medienfinanzierung in Verbindung mit Nachhaltigkeit (NH) => Aufbau von öffentlichen Fördersystemen für meinungsbildende Klein- und Regionalmedien
  • universelle NH-Komponente im journalistischen Ausbildungssystem, neue Studiengänge
  • Nachwuchspreis für kritische Umwelt- und NH-Berichterstattung
  • Dokumentation und Vermittlung „grüner Narrative“ speziell für Massenmedien
  • Etablierung regionaler grüner Storyfestivals für Journalismus und Literatur
  • Etablierung des Genres „nature writing“ als journalistischer Form

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