Seite 3/6 Zeit - Beschleunigung - Entfremdung

3. Zeit – Beschleunigung – Entfremdung

Der Soziologe und Sozialphilosoph Hartmut Rosa von der Universität Jena zeigt auf einer Metaebene, wie die Beschleunigung des sozialen Lebens und das Regime der Deadlines zu einem sich immer stärker ausbreitenden Gefühl der Entfremdung führen. Sinnbilder dafür sind Hamsterräder bzw. der rasende Stillstand. Beschleunigung und Kontrollverlust können umschlagen in nicht gewollte Entschleunigung, wie Kommunikationschaos, Börsencrash, Verkehrsstau – oder Depression. Moderne und Kapitalismus sind auf Steigerung, Wachstum und Entgrenzung angelegt. Dafür wird immer mehr Zeit benötigt, die aber bekanntlich nicht wachsen kann. Einen guten Einstieg in diese kritische Gesellschaftstheorie bietet das Essaybändchen von Hartmut Rosa mit dem Titel Beschleunigung und Entfremdung (2014).

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Nach Einschätzung von Grüner Journalismus verschärfen sich die von Rosa angesprochenen Probleme dadurch, dass viele Menschen durch eine doppelte Zeitverdichtung an ihre Belastungsgrenzen stoßen: In der Waren- und Arbeitswelt geht es um Kapitalverwertung. Von Arbeitnehmern und Konsumenten wird erwartet, dass Einnahmen und Ausgaben möglichst immer weiter steigen. Laut Global Wealth Report suchen weltweit rund 147 Billionen € Finanzkapital nach profitablen Anlagemöglichkeiten. Und da herkömmliche Märkte weitgehend gesättigt sind, wird zunehmend Zeit und Aufmerksamkeit vermarktet. In der Lebenswelt, die weitgehend nicht direkt marktgesteuert ist, führen die vielfältigen Rollenanforderungen zu einer weiteren Zeitverdichtung und Überforderung, z.B. durch Kindererziehung oder Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger neben dem Beruf und all den anderen Tätigkeiten im Alltag. Letztlich geht es auch bei der vielzitierten Work-Life-Balance um diese – sich häufig gegenseitig hochschaukelnden – Spannungen. Viele wollen die Familie nicht einfach dem Beruf unterordnen. Die Kapitalverwertung geht Hand in Hand mit vielfältigen Formen von Selbstausbeutung. Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han (2015) vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass transparentes Verhalten durch die sorglose Preisgabe persönlicher und intimer Daten eine faktisch erzwungene kulturelle Norm geworden sei. Was als Freiheit interpretiert werde, sei in Wirklichkeit Teil des neuen kapitalistischen Ausbeutungs- und Selbstausbeutungsprozesses.

Der vermeintliche Ausweg aus dem doppelten Zeitengpass in der Waren-/Arbeitswelt und der Lebenswelt: Beschleunigung, Verdichtung und Paralleltätigkeiten bzw. Gleichzeitigkeit. Das Ergebnis: Zeitnot, Stress, Entfremdung und Fragen zur Lebensqualität. Es ist schon paradox, betont Rosa: Wir kommunizieren mit Lichtgeschwindigkeit, reisen immer schneller, das Internet bietet immer mehr Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten – und trotzdem haben viele keinen Zeitwohlstand. Egal wie schnell wir sind: Die To-Do-Listen werden immer länger. Viele machen einfach immer mehr, ohne Sinn, ohne ein Ziel zu erreichen. Daraus können schnell Frust und ein Gefühl der Fremdbestimmung entstehen. Rosa spricht in diesem Zusammenhang auch von fehlenden Resonanzerfahrungen (2016), die Menschen neben der Befriedigung materieller Grundbedürfnisse für ein gutes Leben brauchen.

Ein weiteres Problem sind soziale Ungleichgewichte, die auch unter dem Stichwort Digital Divide diskutiert werden. Für ökonomisch gut situierte Menschen mit hohem Bildungskapital stellt der Zugang zu kostenpflichtigen Qualitätsmedien keine Hürde da. Ähnliche Effekte gibt es nutzungsseitig, wie die Sozialwissenschaftlerin Nicole Zillien (2014) und andere zeigen. Danach wachsen die Kluft zwischen einer selbstbestimmten und einer unkontrollierten Mediennutzung – und damit auch die Wissensdifferenzen. Auf einer sozioökonomischen Ebene kommt eine aktuelle Studie der Weltbank zu dem ernüchternden Ergebnis, dass durch das Internet wirtschaftliche und politische Unterschiede global eher verstärkt als vermindert werden. Dabei haben digitale Medien eigentlich das Potential, allen Menschen neue Freiräume zu bieten und soziale Klüfte zu verringern. In der frühen Entwicklungsphase ist das Netz viel stärker als heute als eine Technology of freedom (als gesellschaftlich befreiende Technologien, die nicht von Unternehmen oder Staaten dominiert oder kontrolliert werden) diskutiert worden.

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