Wer von Darmstadt aus in den Odenwald fahren möchte, ohne dabei die Autobahn zu benutzen, der kann auf der B 38 an sein Ziel kommen. Früher fuhr hier das „Odenwälder Lieschen“. Noch heute kann man am Ortsausgang Groß-Bieberau – in Richtung Reinheim – die Spuren der alten Bahnstrecke sehen. Ähnlich wie es dieser Strecke in den 1960er Jahren erging, erging es im Zuge der Bahnreform der 1990er Jahre vielen Strecken: Sie wurden geschlossen, zurückgebaut oder dem Verfall überlassen. Oftmals ohne Ersatz oder gegen das Urteil unabhängiger Verkehrsgutachten.

Die große Bahnreform sieht Fritz Viertel, Referent für Städtische Entwicklung bei der Denkfabrik „Agora Verkehrswende“ als gescheitert an. Nicht aber die Verkehrswende insgesamt: „Ich würde nicht soweit gehen, dass mit dem Scheitern der Bahnreform, die Verkehrswende zum Scheitern verurteilt ist – es ist aber eine große Hypothek. Gäbe es die Infrastruktur von damals noch, und hätte man sie instand gehalten, dann hätte man heute ein Rückgrat für die Verkehrswende“, erklärt Viertel, der auch in der Kommunalpolitik tätig ist.

Großes Potenzial bei der Bahn

Gerade in der Bahn sieht der Experte für die Anbindung des Umlandes an die Städte ein großes Potenzial, da die meisten Menschen den Schienenverkehr als besonders sicher und zuverlässig wahrnehmen. So könnte etwa das Umland mit dem Ausbau des Darmstädter Straßenbahnnetzes samt einer Überland-Straßenbahn gut mit der Stadt verbunden werden, so Viertel. Problematisch sind hierbei jedoch die langen Genehmigungsverfahren, berichtet er, weswegen er im Einsatz von Buslinien eine Zwischenlösung sieht, die auch kurzfristig eingerichtet werden könne.

Doch auch die schon bestehenden Verkehrsmittel bringen ihre Tücken: Will ich zum Beispiel mit Bus und Bahn vom Odenwald aus nach Darmstadt gehen, ist diese Fahrt ohne Probleme zu schaffen. Der Rückweg wird dann schon oft um Einiges schwerer. Los geht es dann schon in Darmstadt. Um 19.30 Uhr sollte der Zug am Bahnhof eintreffen, kommt aber mit fünfminütiger Verspätung. Entsprechend komme ich statt um 20.01 Uhr erst um 20.06 Uhr an – und der Bus fährt vor meinen Augen davon. Der nächste Bus fährt – wenn überhaupt noch einer fährt – eine halbe Stunde später.

Um diesem Problem Herr zu werden und die Attraktivität des Nahverkehrts auch für die Landbevölkerung zu erhöhen, müssten die Fahrpläne der einzelnen Verkehrsverbände angepasst werden, erläutert der Verkehrsexperte, der als Straßenbahnfahrer diese Probleme selbst erfuhr. Ob größere Verkehrsverbände oder die Digitalisierung dabei entscheidend helfen können, bezweifelt Viertel. Zwar machten größere Verbände das Verkehrsnetz übersichtlicher, die Absprache aber schwerer, erklärt Viertel.

Baden-Württemberg arbeite zurzeit an einer solchen Reduktion, entscheidender sei jedoch „die Abstimmung der Tarife und Fahrpläne“. Die Digitalisierung sieht Viertel zumindest als eine Hilfe an: „Digitale Instrumente können einen sinnvollen Beitrag zur Verkehrswende leisten, wenn sie den Nutzer und Nutzerinnen, die auf ihrem Weg von A nach B verschiedene Verkehrsmittel in Anspruch nehmen, einen gemeinsamen Tarif anbieten“, erklärt er.

Neuer Deutschlandtakt

Ein Versuch der Abstimmung von Fahrplänen stellt der Deutschlandtakt dar, den die Bundesregierung ab 2021 stückweise einführen möchte. Dabei sollen die Taktfrequenzen, wie sie in den Städten bereits gang und gäbe sind, auf das bundesweite Schienennetz angewendet werden. Für Verkehrsexperte Viertel ist der Deutschlandtakt ein wichtiger Baustein für einen attraktiveren Bahn, im Fern- und Nahverkehr.

Als „Beispiel für den Deutschlandtakt im Kleinen“, beschreibt er den Darmstädter Luisenplatz, an dem das Umsteigen zwischen einzelnen Verkehrsmitteln und Linien mit kurzen Aufenthalten möglich ist. Die Angleichung der Ankunfts- und Abfahrtszeiten sei auch im Großen organisatorisch machbar. Mit dem Deutschlandtakt würde sich auch das Problem mit den verpassten Bussen und verspäteten Zügen auf den Stadt-Land-Wegen lösen.

Auf dem Land unterwegs zu sein, bedeutet aber nicht nur, Schwierigkeiten auf dem Weg in die Städte zu haben. Oft ist es auch problematisch, sich auf dem Land oder im Ort selbst zu bewegen. Hierfür könnte zum einen der Umstieg vom Verbrennungs- auf den Elektromotor und zum anderen der Umstieg auf das Fahrrad zur Verkehrswende beitragen.

Vorreiter Dänemark und Niederlande

Vor allem für die nötigen Ladestationen sieht Viertel ein großes Potenzial, da auf dem Land „der öffentliche Raum, ein vor allem in der Stadt sehr knappes Gut,“ noch in größerem Ausmaß vorhanden ist. Außerdem muss, so Viertel, die Fahrrad-Infrastruktur beispielsweise mit Schnellwegen ausgebaut werden, wie in den Niederlanden oder Dänemark. „Strecken bis zu fünf Kilometer Länge können auch mit dem Fahrrad und Strecken bis zu 15 Kilometern mit dem Pedelec bequem bewältigt werden“, sagt Viertel. Vorreiter hierbei sind die Niederlande. Bei unseren Nachbarn beträgt der Anteil des Fahrrads am Verkehrsaufkommen schon 25 Prozent, während es in Deutschland gerade einmal elf sind. Dieser Trend bestätigt sich vor allem beim Blick auf die Kurzstrecken von einem bis zwei Kilometern. Auf dieser Strecke beträgt der Fahrradanteil in Deutschland 19 und in den Niederlanden 44 Prozent.

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