Herr Meier schließt seine Wohnungstür und begibt sich auf den Weg zur nächsten Station, von der aus er sich zu seiner Arbeit teleportieren lässt. Bei 30 Grad an einem warmen Oktobermorgen im Jahr 2050 ist es unvermeidbar, dass ihm bei dem kurzen Fußweg der Schweiß von der Stirn tropft. Die Schlange vor dem ausschließlich mit Solarenergie betriebenen Teleportiergerät ist überschaubar.

Er hält sein Handgelenk an einen Scanner und begibt sich in einen zylinderförmigen, fahrstuhlähnlichen Raum. Das Lesegerät scannt Herr Meiers Daten anhand eines im Arm eingepflanzten, elektronischen Chips. Nach wenigen Minuten steigt Herr Meier 25 Kilometer weiter an einer anderen Station aus und läuft auf die große Eingangstür einer Grundschule zu.

S. 23 in der History-App öffnen!

Er findet den passenden Schlüssel an seinem dicken Schlüsselbund und schließt den Raum seiner vierten Klasse auf. Wie jeden Mittwoch steht in den ersten beiden Stunden das Fach Geschichte auf dem Stundenplan. Herr Meier bittet die Klasse um Ruhe. Er ist in den nächsten 90 Minuten für 40 Kinder verantwortlich. Warum er sich das antut, weiß er selber nicht mehr. Vermutlich, weil die unschuldige Generation vor ihm nur eines von vielen Opfern der Entwicklung des menschlichen Handelns ist.

„Öffnet die History-App in eurem Tablett und schlagt Seite 23 auf“, bittet Herr Meier seine Schützlinge. Mit großen Augen staunen die Schüler auf die Weltkarte, die sich auf ihren Bildschirmen langsam öffnet. „So sah die Welt im Jahr 2019 aus“, erklärt Meier. Sofort strecken mehrere Arme in die Luft, und der Lehrer ruft eine Schülerin in der zweiten Reihe auf. „Was sind diese weißen Flächen am oberen und unteren Rand?“, fragte sie. „Das waren früher die sogenannten Arktis und Antarktis. Riesige Flächen, die nur aus Eis bestanden“, erklärt Herr Meier.

„Haben dort die weißen Bären gelebt?“, fragt ein Schüler. Herr Meier antwortet: „Richtig! Genauer gesagt, hießen sie Eisbären, bevor sie vor gut 30 Jahren vollständig ausgestorben sind. Die Temperatur der Erde ist immer weiter angestiegen. Dadurch ist das Eis immer schneller geschmolzen und damit auch der Lebensraum der Eisbären.“

Häuser auf dem Mond – zu welchem Preis?

Nachdenklich lässt sich Herr Meier auf seinen Stuhl fallen. Er nimmt seine Brille ab und schwelgt in Erinnerungen: „Als ich den letzten Eisbären auf der Erde gesehen habe, war ich ungefähr in eurem Alter. Meine Eltern fuhren mit mir in einen Zoo nach Stockholm, wo das Tier seine letzten Jahre verbringen sollte. Damals habe ich nicht verstanden, wie traurig dieser Ausflug eigentlich war. Ich habe mich nur gefreut, in den Zoo zu gehen“, erzählt der Lehrer seinen Schülern.

„Mir war zu dem Zeitpunkt nicht klar, dass ich nie wieder einen Eisbären sehen werde. Wir wurden erst später darüber aufgeklärt, nicht wie ihr schon in der Grundschule.“ Es habe sich alles viel schneller entwickelt als die Menschheit es vorhersagen konnte, betont Lehrer Meier. „Zwar können wir durch Raum und Zeit zu reisen, haben auf dem Mond die ersten Wohnhäuser gebaut und sind auf dem Mars gelandet – alles mit erneuerbarer Energie. Und zum Glück wisst ihr Kinder nicht, was ein Atom- und Kohlekraftwerk ist. Aber zu welchem Preis?“.

Meier ist bestürzt und kommt zum Schluss seines Monologes: „Wir haben zu spät damit angefangen, unsere egoistische Lebensweise aufzugeben und unsere Umwelt zu retten. Jeder aus meiner Generation und den Generationen davor hat Blut an seinen Händen kleben.“

 „Was ist ein Atomkraftwerk?“

Seine Klasse schaut Herr Meier mit fragenden Blicken an. Die Schüler können das Selbstgespräch ihres Lehrers nicht richtig einordnen. Ein langes Schweigen vermischt sich mit der schwülen Luft im Raum, bis alle Schüler plötzlich kreuz und quer fragen: „Warum haben die Menschen das alles zugelassen?“ „Warum haben die Politiker dagegen nichts gemacht?“ „Was ist ein Atomkraftwerk?“ „Hat es früher also wirklich an Weihnachten geschneit?“ „Kann man nicht eine neue Arktis bauen oder die ausgestorbenen Tiere künstlich herstellen?“

Herr Meier schaut auf die Uhr und steht mit verschwitztem Hemd auf. Die Stunde ist vorbei, und er gibt seiner Klasse die Hausaufgaben auf: „Schreibt euch alle Fragen auf und fragt sie eure Eltern und Großeltern. Nächste Woche könnt ihr dann von euren Gesprächen berichten.“ Nachdem die Schüler den Raum verlassen haben, setzt er sich wieder und denkt noch lange darüber nach, wie es so weit kommen konnte.

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