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Kleiner als ein Zeigefinger

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Helmut Ortwein und sein Schützling Hans. (Bild: Doreen Dormehl)

Von Doreen Dormehl

„Ich hab noch nie erlebt, dass eine Fledermaus so viel trinkt“, stellt Helmut Ortwein erstaunt fest. Ruhig sitzt die kleine Rauhautfledermaus in seiner Faust und trinkt hastig die Astronautenkost. Tropfen für Tropfen füttert Ortwein sie vorsichtig mit einer Pipette. Dabei sind Fingerspitzengefühl und Genauigkeit gefragt, denn wenn Flüssigkeit in die Nase der Fledermaus gelangt, könnte das tödlich für sie enden.

Der 83-Jährige hat Erfahrung im Umgang mit den kleinen Säugetieren. Seit knapp zehn Jahren päppelt er geschwächte oder verletzte Fledermäuse auf. Schon als Kind zeigte er eine große Faszination für die Kobolde der Nacht und durchkämmte alte Scheunen in seiner Heimat bei Ober-Seemen nach ihnen. 1954 kam Ortwein nach Walldorf, wo er sich 1980 dem Naturschutzbund (Nabu) anschloss. Durch den Fledermausexperten Klaus Richarz kam Ortwein 1997 zur Arbeitsgemeinschaft Fledermausschutz Hessen. Seitdem setzt er sich leidenschaftlich für die Nachtjäger ein.

Hans – so nennt er die Rauhautfledermaus – ist mit seinen rund fünf Zentimetern nicht mal so groß wie Ortweins Zeigefinger. Vorsichtig setzt er das männliche Tier vor sich auf den Schreibtisch und breitet dessen Flügel aus. Ein kleines Loch zeichnet sich in der hauchdünnen Flughaut ab. „Das ist nicht schlimm, das heilt von selbst zu“, erklärt Ortwein.

Die Haut eines Fledermausflügels fühlt sich an wie die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit geschultem Blick untersucht Ortwein die kleine Rauhautfledermaus auf weitere Verletzungen. Ihr braunes Fell sieht verfilzt und verschmiert aus. Mit einem Pinsel streicht Ortwein über das Rückenfell – das hilft Hans bei der Fellpflege.

„Fledermäuse sind sehr reinliche Tiere. Da ihre Flughäute sehr dünn sind, müssen sie geschmeidig bleiben. Deshalb verbringen Fledermäuse bis zu acht Stunden am Tag mit der Körperpflege“, weiß Ortwein. Damit ihre dünne Haut nicht austrocknet, bevorzugen Fledermäuse feuchte Plätze. Hans scheint keine weiteren Verletzungen zu haben, nur abgemagert ist er. Der Plan für die nächsten Tage: Füttern und Flugstunden.

An seinen ersten Pflegling erinnert sich Helmut Ortwein mit Freude: „Es war eine Zweifarbfledermaus – ein wunderschönes Tier. Wie ihr Name es verrät, zeichnet sie sich durch ihr auffallend gefärbtes Fell aus – das Rückenfell schimmert silbrig, während Gesicht, Ohren und Flughäute tiefschwarz sind.“ Diese Schönheit erhielt Ortwein vom Besitzer eines Walldorfer Zoofachgeschäfts, bei dem sie jemand abgegeben hatte. „Es war ein richtig kalter Winter. Eigentlich hätte die Fledermaus in ihrem Winterquartier schlafen müssen. Ihr war aber wohl zu kalt, so dass sie sich in eine warme Wohnung verkroch“, vermutet Ortwein.

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Hans ist durstig: „Ich hab noch nie erlebt, dass eine Fledermaus so viel trinkt“, sagt Helmut Ortwein. (Bild: Doreen Dormehl)

Mit der Fledermaus im Gepäck, fuhr er mit seiner Tochter Ruth zur Fledermausexpertin Ruth Mässing-Blauert. Diese untersuchte die Fledermaus und stellte fest, dass ihr nichts fehlte. „Sie musste nur gefüttert werden. Frau Mässing- Blauert fragte, ob wir uns das zutrauen. Also haben wir das Tier wieder mit nach Hause genommen“, lacht Ortwein heute noch über die damals ungewohnte Situation. Seine Tochter Ruth übernahm zuerst die Fütterung. Er selbst traute sich dies anfangs nicht zu, weil er so große Hände und Finger hat.

Helmut Ortwein nimmt einen Mehlwurm aus einer Kiste, trennt den Kopf ab und bietet ihn Hans mit einer Pinzette an. Gierig verschlingt dieser den Wurm. Rund 4000 Insekten pro Nacht fressen Fledermäuse im Durchschnitt. Noch einen Tropfen Antibiotika für Hans, um möglichen Krankheiten vorzubeugen.

Über jede Fledermaus, die zu ihm kommt, führt der Walldorfer Buch. Auf einer Karteikarte notiert Ortwein ihre Merkmale: Gewicht, Verletzungen, und wie sie zu ihm gekommen ist. Hans fanden aufmerksame Bürger mitten in Rüsselsheim und brachten ihn zu einer Tierärztin, die sich seiner annahm. Dann setzte sie sich umgehend mit Ortwein in Verbindung.

Ortwein ist eine Institution in Mörfelden-Walldorf, was den Schutz der Fledermäuse angeht. Er nimmt sich ihrer an, pflegt sie, berät die Finder von Notfällen und klärt sie über die Lebensweise der Nachtjäger auf, um ihre Akzeptanz für die Tiere zu verbessern. Auch veranstaltet er mit dem Nabu Walldorf Fledermausexkursionen.

Da Fledermäuse durch das Bundesnaturschutzgesetz als besonders geschützt gelten, braucht Helmut Ortwein für seine Arbeit mit den Tieren eine besondere Genehmigung von der Unteren Naturschutzbehörde – eine artenschutzrechtliche Befreiung. Durch sie ist er unter anderem berechtigt, Habitatbäume mit Höhlen für die Nachtjäger zu markieren. Diese werden von Hessen-Forst verschont. Auch ortet er stichprobenweise Fledermäuse und kartiert sie. Zudem hat Ortwein rund 70 Fledermauskästen als Quartiere in der Gemarkung Mörfelden-Walldorf aufgehängt.

Ortwein legt Hans in eine Transportbox mit Papiertüchern. Das ist sein Quartier für die nächsten Tage. Mehlwürmer, abgezählt, liegen für den kleinen Hunger bereit, dazu ein feuchtes Tuch, das das Tier ablecken kann, wenn es Durst verspürt. Am Abend wird Hans wieder von Hand gefüttert.

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