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Mit einem Gesicht, einem Namen und einer Geschichte kann ein Tier zum Medien-Star werden. (Quelle: creativecommons.org, Kai Schreiber)

Von Vanessa Laspe

Februar 2014: Der Giraffenbulle Marius wird im Kopenhagener Zoo betäubt, erschossen, öffentlich obduziert und den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Durch seine Tötung sollte seine Art bewahrt werden. Denn hätte sich Marius gepaart, wäre das Inzucht gewesen. Die Regeln der Europäischen Zoo- und Aquarienvereinigung (EAZA), der Rund 350 Zoos angehören, schreiben vor, dass gesunde Tiere in Zoos zur Vermeidung von Inzucht getötet werden müssen. Marius war den Tieren aus seiner Herde und anderen Giraffen in europäischen Zoos genetisch zu ähnlich – und musste sterben.

Es folgt eine Welle der öffentlichen Empörung – auch auf internationaler Ebene. Mehr als 62.000 Menschen fordern in einer Online-Petition die Schließung des Kopenhagener Zoos. Der Direktor Bengt Holst erhält Morddrohungen. Wegen der Tötung eines einzelnen Tieres, während die Bedingungen für Tiere in Massenhaltung zur Nahrungsmittelproduktion nur mäßige öffentliche Aufschreie auslösen.

Auch medial wird Marius‘ Schicksal diskutiert. Zum Beispiel in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung „Millionen Schweine sind tot, es lebe die Giraffe!“ vom 13. Februar 2014. Darin äußert sich Julia Gutjahr zum Verhältnis von Menschen zu Tieren und Gewalt. Gutjahr ist Mitglied der Group for Society & Animals Studies (GSA). Diese Gruppe von Soziologen an der Universität Hamburg beschäftigt sich mit dem Forschungsfeld der Human-Animal Studies (HAS).

Eine neue Forschungsrichtung: Human-Animal-Studies

Die HAS untersuchen die kulturelle, soziale und gesellschaftliche Bedeutung von Tieren, ihre Beziehungen zu Menschen sowie die gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse. Wissenschaftler aus diesem Forschungsbereich stammen aus verschiedenen Disziplinen wie Soziologie, Politikwissenschaften oder auch Kunst. Sie sind Experten in der Analyse der immer wiederkehrenden öffentlichen Tier-Debatten.

Könnten die Berichterstattung und ein medialer Hype um solche Ereignisse eine Chance sein, um auf bestimmte Aspekte der Beziehung zwischen Mensch und Tier aufmerksam zu machen und zu sensibilisieren – für Tierschutz, Artenschutz oder Tierhaltung? „Je nach Art der Berichterstattung schon“, meint Aiyana Rosen, Politikwissenschaftlerin und Gründungsmitglied des Chimaira-Arbeitskreises für Human-Animal Studies. Im Falle Marius‘ habe das Ereignis eine Diskussion um die Legitimation des Tötens von bedrohten Tierarten ausgelöst. Hier bestehe die Chance, gerade bei Zoobesuchern das Bewusstsein für einen Widerspruch der Institution Zoo zu fördern: Wie ist Artenschutz, dem sich die meisten Zoos verschrieben haben, mit der Tötung bedrohter Tierarten vereinbar?

Ein weiterer Widerspruch wurde nach Marius‘ Tötung diskutiert: Die Huffington Post Deutschland fragt in einem Artikel mit dem polemischen Titel “Die Giraffe ist tot – na und?“, warum in Zoos die Fütterung von Fischen bei Flugshows kein Skandal sei. „Tiere werden vom Menschen in Kategorien eingeteilt“, erklärt Rosen, „und dabei gelten in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Kategorien“. Solche Kategorien könnten aus Nähe zum Menschen oder Essbarkeit bestehen. Fische würden in unserer Gesellschaft als Nahrungstiere für Menschen und Tiere klassifiziert. Giraffen gehörten nicht in diese Kategorie. Deshalb könne deren Verfütterung einen Skandal und einen öffentlichen und medialen Aufschrei auslösen.

„Aber dabei bleibt es oft – oder der Effekt schlägt sogar ins Gegenteil um“, meint Rosen. So führte zum Beispiel 2003 der Erfolg des Zeichentrickfilms „Findet Nemo“ aus den Pixar- und Disneystudios vor allem in den USA zu einer erhöhten Nachfrage nach Zierfischen. Um die Nachfrage zu befriedigen, wurde im südpazifischen Inselgebiet Vanuatu 2004 die Fangquote erhöht, obwohl die Überfischung die Riffe ökologisch stark schädigt.

Der Fall Knut

Ein weiteres Beispiel für große öffentliche und mediale Aufmerksamkeit eines einzigen Tieres ist das Leben des Eisbären Knut im Zoologischen Garten Berlin (2007-2011). Seine Mutter Tosca nahm ihn nicht an und so wuchs er in der Obhut des Tierpflegers Thomas Dörflein auf. Schon bevor Knut der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, herrschte reges mediales Interesse. Der Rundfunk Berlin-Brandenbug (RBB) berichtete wöchentlich. Als der Zoodirektor Blaszkiewitz zusammen mit dem damaligen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel Knut der Öffentlichkeit vorstellte, waren hunderte Journalisten anwesend, auch internationale. RBB, N24 und n-tv berichteten live. In seinem ersten Lebensjahr wird fast täglich über die Entwicklung des jungen Eisbären berichtet – in Fernsehen, regionalen und nationalen Zeitungen oder Boulevardpresse. Auch außerhalb von Europa wird über den Berliner Eisbären berichtet wie zum Beispiel in Indien über den ersten Geburtstag des „world-famous polar bear Knut“. Nach und nach klang jedoch das mediale Interesse an Knuts Leben im Berliner Zoo ab. „Bei solchen Ereignissen gibt es ein generelles mediales Problem: Ein Thema löst das andere ab“, sagt Aiyana Rosen.

Knut der Eisbär, Bruno der Braunbär, der Giraffenjunge Marius, Heidi das schielende Opossum – all diese Tiere erhielten im vergangenen Jahrzehnt große Aufmerksamkeit durch klassische Medien. Hinzu kommen Tierberühmtheiten aus Film und Fernsehen: Lassie der Hund, Flipper der Delfin und unser Charly, der Schimpanse. Die Namen bleiben im Kopf. Teilnehmer einer Studie zum interkulturellen Vergleich der Mensch-Tier-Beziehungen des Bündnis Mensch & Tier von 2009 berichteten, dass starke Emotionen und humorvolle Geschichten ihre Erinnerung an Filmtiere prägen. Die Studie schlussfolgert, dass Tiere in Film und Fernsehen weltweit für den Menschen einen hohen symbolischen Wert und emotionalen Identitätsfaktor besitzen.

„Menschen brauchen Geschichten, um sich zu identifizieren“, sagt auch die Politikwissenschaftlerin Ayiana Rosen. Die Namen würden die Tiere zu Individuen und zu handelnden Wesen machen. Mäuse, Fische oder Nutztiere dagegen würden als namenlose Masse erscheinen und seien somit nicht als Individuen zu berücksichtigen.

Wenn Tiere einen Namen erhalten, kann es plötzlich ganz anders aussehen – ein Beispiel dafür ist eine ausgebüxte Kuh im Jahr 2011. Sie sollte geschlachtet werden, floh von ihrem Hof, wurde wochenlang gesucht und erhielt den Namen „Yvonne“. Die BILD bezeichnet sie sogar als „Waldkuh“. „Durch den Namen und die Berichterstattung in den Medien wurde in den Menschen Empathie erzeugt“, sagt Rosen. Tierschützer und Freiwillige suchten fieberhaft nach ihr um sie zu retten, sogar mit einer Wärmebildkamera. Noch drei Jahre später hat Yvonne auf einer extra angelegten Facebook-Fanpage als Person des öffentlichen Lebens noch über 4.000 Likes.

Human-Animal Studies

In dem interdisziplinären Forschungsfeld der Human-Animal Studies werden die kulturelle, soziale und gesellschaftliche Bedeutung von Tieren, ihre Beziehungen zu Menschen sowie die gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse untersucht. Der Forschungsbereich wächst im deutschsprachigen Raum seit dem letzten Jahrzehnt. Zum Beispiel schlossen sich Gruppen und Netzwerke von Wissenschaftlern oder Aktivisten aus verschiedenen Fachrichtungen zusammen, unter anderem:

Ganze Institute widmen sich inzwischen den HAS, wie auch das Messerli-Institut der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Dort werden gemeinsam mit der medizinischen Universität verschiedene Facetten der Mensch-Tier-Beziehung erforscht. An der Universität Mainz gab es im Sommersemester 2014 eine Vortragsreihe zu HAS und die Universität Kassel richtet eine Junior-Professur für das Fachgebiet „Sozial- und Kulturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung von Tier-Mensch-Beziehungen“ ein.

Im englischsprachigen Raum sind die Human-Animal Studies schon länger etabliert. Dort gibt es eine Trennung zwischen Critical Animal Studies (CAS) und Human-Animal Studies (HAS). Die CAS haben ihre Wurzeln in Tierbefreiungs-Bewegungen und widmen sich einer ganzheitlichen Befreiung von Menschen, nicht-menschlichen Tieren und der Erde und beziehen Position gegen Systeme der Unterdrückung. Die HAS hingegen untersuchen verschiedenste Beziehungen zwischen Menschen und Tieren zum Beispiel im Bezug auf Recht, Musik, Kunst oder Religion. Im deutschsprachigen Raum ist keine scharfe Trennung zwischen Critical- und Human-Animal Studies vorhanden. Allerdings gibt es bereits Ansätze, den Diskurs der CAS dorthin zu transportieren. So startete im Juni 2014 die deutschsprachige Ausgabe des Journals für kritische Tierstudien und im November 2014 findet am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) die EU conference for Critical Animal Studies statt.

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