Ein Flusstagebuch
Prolog
Die Flussreportage »Die Gersprenz – zurück zum Ursprung« ist eine Reise, dokumentiert in einem Tagebuch. Eine Reise, auf der ich die Gersprenz als Fließgewässer porträtiere und an verschiedenen Stationen Halt mache. Das passiert rückwärts. Ich starte bei der Mündung in den Main und ende bei der Quelle im südhessischen Odenwald. Denn so habe ich die Stationen erkundet. Manchmal müssen wir gegen den Strom schwimmen, um die Antworten auf unsere Fragen zu finden. Es ist eine Reise, die mich persönlich prägt – eine Reise zurück zum Ursprung. Was steckt hinter der Gersprenz? Ist sie ein gewöhnlicher Nebenfluss des Mains, wie es unzählige Kleinflüsse in Deutschland gibt? Während meiner Recherche stelle ich fest, dass die Gersprenz ihre eigene Geschichte erzählt. Ich ergründe alte Mühlen, beleuchte Renaturierungen und spreche mit Menschen, die der Gersprenz eine Stimme geben. Ich möchte die Vielfalt des Flusses darstellen und aufzeigen, wie ganzheitlich das Ökosystem »Wasser« betrachtet werden kann. Eine Flussreportage über die Gersprenz zu erstellen, war reiner Zufall. Ich düse mit dem Fahrrad zum Mediencampus und passiere einen bewachsenen Flusslauf. Stockenten schwimmen in gemächlichem Tempo an mir vorbei, auf der Wasseroberfläche spiegeln sich die Sonne und verzweigte Äste. Ein Eichhörnchen klettert den Stamm einer Hainbuche hinauf. Mir wird klar: Mit dem mir noch unbekannten Gewässer möchte ich mich beschäftigen.
25. Oktober 2024
Wassergedanken
Wasser ist überall verankert – wir bestehen aus Wasser, wir brauchen Wasser zum Überleben, Wasser spielt eine wichtige Rolle für die Umwelt und das Klima. »Wasser« ist ein Thema mit so viel Potenzial: Es ist überall und immer da. Für viele so selbstverständlich. Dabei ist es das gar nicht. Ich fange an, über die Gersprenz zu recherchieren. Welche Bedeutung hat ein heimischer Fluss heute? Wer zieht einen Nutzen aus ihm? Gibt es Konflikte rund um Wasser? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr Fragen kommen auf.
1. November 2024
Eckdaten über die Gersprenz
Die Gersprenz ist ein 51,3 Kilometer langer, linker Nebenfluss des Mains. Zusammen mit dem Quellbach, dem Mergbach, ergibt sich eine Länge von 62,1 Kilometern. Sie entspringt im Odenwald und fließt durch mehrere Ortschaften, bevor sie nahe dem bayrischen Stockstadt am Main in den namensgebenden Fluss mündet. In der Vergangenheit spielte die Gersprenz eine wichtige Rolle für die Schifffahrt, den Betrieb von Mühlen und die Wasserversorgung der umliegenden Städte und Dörfer. Heute ist sie nicht mehr schiffbar, dafür aber beliebtes Ziel für Wanderer, Radfahrer und Naturliebhaber.
9. November 2024
Exkursion zur Mündung | Stockstadt am Main
Die Mündung ist erst der Anfang
Heute mache ich mich in Begleitung mit Marvin auf zur ersten Station, der Mündung der Gersprenz in den Main. Marvin ist mein Partner und wird mich noch auf weiteren Ausflügen begleiten. Die Mündung ist beeindruckend: Der Fluss, der hier schnell und kraftvoll daherkommt, mündet in einen viel größeren, den Main. Bei Mainz fließt der in den Rhein und nach vielen hundert Kilometern in die Nordsee. Die Übergänge zu den anderen Meeren sind fließend – Wasser besteht aus schier unendlich vielen Molekülen und ist doch alles ein großes Ganzes.
Die Gersprenz mündete früher am Ortsrand von Stockstadt in den Main, wurde jedoch seit 1970/1971 umgeleitet und fließt nun auf etwa drei Kilometer Länge unter der Bundesautobahn 3 hindurch bis zur Staustufe Kleinostheim. Ihre letzten sieben Kilometer und die Mündung befinden sich bei Stockstadt am Main, wo die Landesgrenze zwischen Bayern und Hessen verläuft – und der Main zum Grenzfluss wird. Mit Naturbelassenheit hat eine solche Umleitung erst mal nicht viel zu tun. Trotz Renaturierung werden einige Abschnitte der Gersprenz nie wieder so sein, wie sie einmal waren. Wie viel Natur erwartet mich am Fluss? Was wird für den Naturschutz getan?
10. November 2025
Exkursion zur Stadtmühle | Babenhausen
Das Sorgenkind von Babenhausen
Wer die Babenhäuser Stadtmühle zum ersten Mal sieht, wird sich schnell in das historische Wahrzeichen verlieben: Die alte Mühle, die sich am Rande der Altstadt befindet, wirkt märchenhaft romantisch. Sie zeugt von der einstigen Nutzung der Gersprenz. Heute steht sie für die Herausforderungen, die viele Städte und Kommunen aufgrund hoher Naturschutzauflagen und des technischen Fortschritts bewältigen müssen.
Die Geschichte der Stadtmühle Babenhausen reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück, als die Mühle vermutlich zur Versorgung der Burgbewohner mit Brotmehl diente. Im Laufe der Jahrhunderte gab es zahlreiche Streitigkeiten zwischen den Müllern und den Anwohnern, dokumentiert in alten Akten und Gerichtsbüchern. Ab 1854 wurde die Stadtmühle als Lohnmühle betrieben, wo Bauern ihr Getreide gegen Entgelt mahlen lassen konnten. Nach verschiedenen Modernisierungen, unter anderem der Einrichtung eines Elektrizitätswerks um 1900, wurden 1973 das E-Werk und der Mühlenbetrieb eingestellt. Ein gutes Vierteljahrhundert später wurde mit einer neuen Wasserturbine wieder Strom produziert.
Laut der Offenbach Post erzeugte die Wasserkraftanlage im Mai 2022 wegen eines Totalschadens der Turbinenwelle keinen Strom mehr. Die Stadt habe vor hohen Reparaturkosten gestanden sowie weiteren Investitionskosten, damit Fische ohne Hindernisse an der Mühle vorbei schwimmen können. Durch die Turbine wurden nach Schätzungen von Experten mehrere tausend Fische getötet. Das Fischsterben stand in keinem Verhältnis zur produzierten Strommenge und warf ökologische Bedenken auf, heißt es in einem Artikel der Offenbach Post vom 13. Mai 2022. Auf meine Nachfrage, wofür die Mühle gerade genutzt wird, antwortet die Abteilung Tiefbau und Kläranlage: »Derzeit generiert die Wasserkraftanlage an der Stadtmühle keinen Strom. Die direkt danebenliegende Wehranlage wird hingegen noch betrieben.« Welche Funktionen das Wahrzeichen in Zukunft haben wird, hängt von den Entscheidungen im Rahmen der Wasserrahmenrichtlinie ab, die Landkreis und Kommune noch treffen werden.
16. November 2024
Exkursion zum Stauwehr und zur Fischtreppe | Sickenhofen
Grauer Fremdkörper
Meine nächste Station ist ein Stauwehr und eine neue Fischtreppe, die sich an der Konfurter Mühle befinden, zwischen den Babenhäuser Ortsteilen Sickenhofen und Hergershausen. Als ich die Anlage zum ersten Mal sehe, wirkt sie mit ihren betonierten Stützpfeilern wie ein Fremdkörper in der Landschaft. Am Wehr teilt sich der Flusslauf der Gersprenz in drei Arme. Der Hauptlauf macht vor der Konfurter Mühle einen Linksbogen, während das Wasser geradeaus in den Mühlengraben fließt. Nach rechts strömt es in einen kanalisierten Graben und bildet wenig später mit dem Richerbach zusammen den Ohlenbach. Der Ursprung des Bauwerks liegt einige Jahrhunderte in der Vergangenheit. Früher diente das Wehr der Wasserversorgung der Mühle bei Niedrigwasser. Heute soll die Wehranlage Babenhausen vor Hochwasser schützen; 2016 hat die Stadt sie mit Landesgeldern erneuert – etwa mit Basaltsteinen, die das Ufer festigen sollen.
»Fische sind nur ein kleiner Teil der Lebewesen, die Gewässer hochwandern.«
Fritz Fornoff, Naturschützer, Arbeitskreis »Naturschutzscheune«
Wasserschutz ist europäisches Recht
Gewässerschutz spielt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene eine wichtige Rolle. 2002 haben die EU-Staaten die Wasserrahmenrichtlinie der Europäischen Union verabschiedet. Sie zielt darauf ab, die Gewässerqualität in Europa zu schützen und den Zustand aller Gewässer bis 2027 auf ein gutes Niveau anzuheben. Konkret bedeutet das für Kommunen eine Vielzahl vorgeschriebener Maßnahmen, die von den örtlichen Gegebenheiten abhängen. Dazu gehören, Bäume und Sträucher zu pflanzen, die Ufer zu renaturieren, Flächen dafür zu kaufen und Wehre und andere Hindernisse zu entfernen, die wandernden Fischen den Weg stromauf versperren. »Derzeit setzen wir ein Projekt zur Renaturierung des Richerbachs bei Harpertshausen um«, teilt mir eine Mitarbeiterin der Stadt mit. Weitere Projekte seien in der Planung.
Gut gedacht, halbherzig gemacht
Ein anschauliches Beispiel für die Renaturierung ist die Fischtreppe, die 2018 am Hauptarm der Gersprenz vor dem Wehr angebracht wurde. Sie besteht aus einer Reihe kleiner Rampen und soll es Fischen erleichtern, im Fluss zu ihren Laichgründen zu wandern. An der Konfurter Mühle war vor dem Umbau Schluss – kein Durchkommen für Bachforelle, Barben oder Nasen.
Strömungen und Temperaturunterschiede beeinflussen die Aufstiegschancen der Fische. Der Naturschützer Fritz Fornoff erklärt die Bedeutung der ökologischen sogenannten Durchgängigkeit: »Fische sind nur ein kleiner Teil der Lebewesen, die Gewässer hochwandern – auch Steinkrebse, Köcherfliegen und andere Insektenlarven gehören dazu.« Jedes Lebewesen, das in einem Bach wohnt, gelangt in seinem Leben in einen Zyklus, in dem es nach oben wandert; andernfalls würden die Tiere immer weiter bachabwärts treiben. »Das Problem ist, dass Fische durch die Strömung angelockt werden. Ist die Strömung in der Fischtreppe geringer als in der anderen Richtung, schwimmen sie in die entgegengesetzte Richtung«, sagt Fornoff. Gewässerwart Alexander Späth fügt hinzu: »Im Sommer wird das Wasser oberhalb der Fischtreppe im Wehr so warm und sauerstoffarm, dass sich kein Lebewesen freiwillig dorthin verirrt.« Zusätzlich werde es schwierig, wenn sich der Zugang zur Fischtreppe flussab befindet.
17. November 2024
Exkursion zum Museum an der Gersprenz | Münster
Über das Mühlensterben und Heimatgeschichte
Heute erfüllen Flüsse wie die Gersprenz eine ökologische und kulturelle Funktion. Welche Bedeutung hatten sie früher für das Leben der Menschen? Jeder kennt Mühlen, doch wie funktionierten sie? Wie werden Mühlen heute ersetzt? Antworten auf die Fragen liefert das »Museum an der Gersprenz« in Münster. Der vordere Teil des Gebäudes besteht aus Bruchsteinen, der hintere ist ein Fachwerk.
Durch eine historische Ausstellung im Jahr 2004 ist ein Heimat- und Geschichtsverein in Münster entstanden. In Kooperation mit der Gemeinde hat dieser das Museum in der Langsmühle ins Leben gerufen. Jeden ersten Sonntag im Monat ist das Heimatmuseum von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Das Mühlrad existiert heute nicht mehr. Im Museum lässt sich der Mahlprozess durch Fotografien und Objekte wie einem großen Mahlstein nachvollziehen. Vereinsmitglied Ernst-Peter Winter sagt: »Das Erdgeschoss beherbergt eine Dauerausstellung zur Geschichte von Münster. Hier befinden sich auch ein Café und ein Kinosaal. Im Obergeschoss werden jährlich wechselnde Ausstellungen gezeigt.«
Früher waren Mühlen zentrale Einrichtungen in der ländlichen Wirtschaft und trugen zur Selbstversorgung der Gemeinden bei. Sie nutzten die Energie des fließenden Wassers, um mechanische Arbeit zu verrichten. Das Wasser wurde über ein Wasserrad geleitet, das sich drehte und eine Achse antrieb. Die Energie wurde dann genutzt, um verschiedene Aufgaben zu erfüllen – Getreide zu Mehl zu mahlen, Öl zu pressen oder Papier herzustellen.
»Das Mühlensterben erreichte die Langsmühle um das Jahr 1967.«
Ernst-Peter Winter, Heimat- und Geschichtsverein Münster
»Nachdem bereits Anfang des 20. Jahrhunderts das Mühlrad durch eine Turbine ersetzt worden war, erreichte das Mühlensterben die Langsmühle um das Jahr 1967«, erzählt Ernst-Peter Winter. Das »Mühlensterben« bezieht sich auf den Rückgang von Mühlen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ursachen waren vor allem der technische Fortschritt und die Mechanisierung der Landwirtschaft. An die Stelle vieler kleiner Mühlen traten größere, zentralisierte Betriebe, die in größerem Umfang produzieren konnten. Anstelle von Wassermühlen traten moderne Wasserkraftwerke, die große Mengen an elektrischer Energie aus fließendem Wasser erzeugen.
22. November 2024
Exkursion zur Mörsmühle | Dieburg
Vor geschlossenen Toren
Dieburg ist eine weitere Stadt, durch die die Gersprenz größtenteils kanalisiert verläuft. Die Mörsmühle ist ein bekanntes Ausflugsziel am Fluss. Sie liegt auf einem großen Gelände im Norden Dieburgs, direkt neben dem Angelsportclub. Das 1906 aus Backstein errichtete Haupthaus umfasst eine 150 Quadratmeter große Wohnung und eine gleich große Nutzfläche.
»Derzeit wird die Mörsmühle als Wohnhaus genutzt. Die Stadt hofft, dass sie wieder ein Ausflugslokal wird.«
Ulrike Posselt, Kulturamt Stadt Dieburg
Die Mühle überlebte sogar einen Brand. In den 90er Jahren sanierte Andreas Reiß das Nebengebäude, das unter anderem einen großen Gastraum enthält. Für zwei Jahrzehnte bewirtschaftete Reiß die Mühle, bis er sie 2021 verkaufte. »Wir wollen die Mühle in Eigenleistung sanieren«, zitiert die Offenbach Post das Paar, das die Mühle erworben hat, in einem Artikel vom 10. Juni 2021. Geplant war es, die Mühle unter dem Namen »Mühlengarten« neu zu eröffnen, doch die Vision lässt bis heute auf sich warten; der Gasthof bleibt geschlossen. »Derzeit wird die Mörsmühle als Wohnhaus genutzt. Die Stadt hofft, dass sie wieder ein Ausflugslokal wird«, sagt Ulrike Posselt vom Dieburger Kulturamt.
Ehemals zentrale Orte wie Mühlen scheinen ihren ideellen Wert verloren zu haben. Sie stehen leer oder vor einer ungewissen Zukunft. Wasserkraftwerke hingegen scheinen mancherorts die Sorgenkinder der Städte und Gemeinden zu sein. Sie sind nicht intakt, unwirtschaftlich oder problematisch für die Artenvielfalt und das Ökosystem »Wasser«. In welcher Form begegnet mir Natur auf dem weiteren Weg der Gersprenz bis zur Quelle? Echte Wildnis – gibt es sie an der Gersprenz überhaupt.
28. November 2024
Gespräch mit Niklas Korb | Interessengemeinschaft Gersprenz
Eine Stimme für die Gersprenz
Niklas Korb ist in Babenhausen groß geworden und angelt schon sein Leben lang. Er erzählt mir, dass die Gersprenz in den letzten Jahrzehnten an vielen Stellen begradigt und stark verändert wurde. In seinem Angelverein, dem AV Eppertshausen, engagiert er sich für den Gewässerschutz. Seit einem Jahr bringt er als neuer Vorsitzender frischen Wind in die Interessengemeinschaft Gersprenz, kurz IGG. »Es ist mir besonders wichtig, die Themen Kommunikation, Jugendförderung und Naturschutz voranzutreiben«, betont Niklas Korb. Die IGG fungiert als Sprachrohr für die 15 Angelvereine an der Gersprenz. Jährlich veranstaltet die IGG ein Jugendzeltlager – »das gesellige Beisammensein spielt eine wichtige Rolle beim Angeln.«
»Was der Biber für Angler schafft, ist ein Traum.«
Niklas Korb, erster Vorsitzender der Interessengemeinschaft Gersprenz
In der Gersprenz leben einige vom Aussterben bedrohte Arten wie der Europäische Aal oder das Bachneunauge. Um die Pflege der Fischbestände kümmern sich die Angelvereine und die Interessengemeinschaft. »Wir bekommen die Aale zum Beispiel vom Züchter und setzen sie dann in den Fluss ein«, sagt der Vorstand, der die Gersprenz als Entwicklungsgebiet für den Aal sieht. Durch das geringe Vorkommen von Hechten und Europäischen Welsen hat der Aal hier wenige Feinde. Neben der Wiederansiedlung von Fischen arbeitet die IGG an klassischen Strukturverbesserungen, wie die Fachleute sagen. »Wir schaffen Laichhabitate, damit sich die Fische wieder besser fortpflanzen können«, sagt der IGG-Vorstand, »wenn man die Natur unterstützt, macht sie die beste Arbeit.« Zur Fischdurchlässigkeit merkt Niklas Korb an: »An der Gersprenz gibt es auf keinen Fall ausreichend Fischtreppen.« Er sieht Probleme darin, wenn die Fischtreppen nicht direkt am Hindernis angelegt werden. »Wenn der Aufstieg zu weit weg ist, stehen die Fische vor dem Hindernis und kommen nicht drüber.« Vertrauen hat der Babenhäuser hingegen in den Biber. »Er ist der beste Gewässeringenieur, und was er für Angler schafft, ist ein Traum.« Übernächste Woche begeben wir uns gemeinsam auf die Spuren des Bibers – der Vorstand weiß, wo der Nager gerade am Werk ist.
Nach dem Gespräch habe ich ein Gefühl für den Fluss gefunden, meinen eigenen Zugang zur Gersprenz. Ich nehme sie als eine Lebensader wahr, die über Jahrzehnte dem Handeln des Menschen ausgesetzt war – sie wurde verbogen, umgeleitet, ihres Charakters beraubt. Und trotzdem ist da die Kraft der Natur, die auch kleine Renaturierungen annimmt und schnell auf sie reagiert – mit neu wandernden Fischen oder einer Kurve, die sich der Fluss in wenigen Jahren wieder gräbt, wenn die Bagger bei einer Renaturierung seine Ufer von Steinpackungen und Beton befreit haben.
8. Dezember 2024
Exkursion zu den Biberbauten | Dilsbach
Die Bedeutung von Auen
Je mehr ich mich dem Ursprung der Gersprenz nähere, desto natürlicher wird ihr Verlauf. Der »Reinheimer Teich« und die »Scheelhecke von Großzimmern« sind Vorzeigeprojekte an der Gersprenz. Sie wurden 1975 beziehungsweise 1984 als Naturschutzgebiete ausgewiesen. Beides sind echte Auen: natürliche Überschwemmungsgebiete, die durch das Zusammenspiel von Fließgewässern und ihrer Umgebung entstehen – mit einer hohen Artenvielfalt und dem Vorteil, bei Hochwasser wie ein Schwamm die Fluten aufzunehmen. »Wenn ich ein Gewässer habe, das einen Meter breit ist, dann sollte die natürliche Aue etwa 30 Meter breit sein«, erklärt Alexander Späth, Gewässerwart der IGG. Das variiert, je nachdem, wie stark das umliegende Gelände ansteigt. »Bei der Gersprenz, die an vielen Stellen zehn Meter breit ist, wäre die natürliche Aue sogar dreihundert Meter breit.« Wenn ich nun an Flüsse denke, habe ich das typische Bild vor Augen: dass sie etwas tiefer liegen, umgeben von einer steil abfallenden Wiese oder Steinfläche, die nur wenige Meter nach außen ragt. Wenn dann ein paar Bäume den Flusslauf flankieren, empfand ich das als natürlich.
In diesem Moment wird mir bewusst: Meine Vorstellung eines Flusses entspricht nicht seinem ursprünglichen Erscheinungsbild. Ein Zustand, der ohne Eingriffe des Menschen gegeben wäre. Denn an kaum einer Stelle ist das unmittelbare Ufer breiter als der Fluss selbst. Platz für natürliche Auen gäbe es vielerorts nicht, so Alexander Späth, der in seiner Freizeit angelt und sich gut mit Gewässern auskennt. »Der Mensch gesteht sich immer viele Flächen zu, zum Beispiel für neue Supermärkte. Für die Natur sieht das anders aus.«
In welchem Zustand befindet sich die Gersprenz?
Bei Reinheim gibt es gut renaturierte Flächen. Fritz Fornoff sagt: »Die Gewässergüte, der Zustand des Wassers, ist in großen Teilen gut, weil die Kläranlagen gut funktionieren. Leider gibt es immer noch chemische Einträge in die Gersprenz.« Trotz der vorgeschriebenen Abstände der Landwirtschaft zum Fluss belasten Pestizide und Düngung kleine Fließgewässer. Die Gersprenz weist Güteklassen von eins bis drei auf. In Deutschland wird das System der Güteklassen von eins bis sieben angewendet, wobei Klasse eins für ausgezeichnete Wasserqualität steht. Wenn Gewässer eine bestimmte Güteklasse unterschreiten, können Fischarten kaum überleben.
»Leider gibt es immer noch chemische Einträge in die Gersprenz.«
Fritz Fornoff, Naturschützer und Biberbeauftragter
»Unser dringlichstes Problem der Zukunft wird sein: Woher bekommen wir Trinkwasser?«, verdeutlicht Alexander Späth die Lage. Der Biber sorgt dafür, dass der Wasserspiegel ansteigt und das Grundwasser nicht ausgeht. »Nur macht der Biber das nicht großflächig.« Das meiste Wasser, das von oben kommt, werde einfach abgeleitet. Späth folgert: »Wir entziehen uns das Wasser selbst.« Das Tier ist seit den letzten Jahren wieder vermehrt in Deutschland anzutreffen. Fornoff, der als Biberbeauftragter tätig ist, weiß: »Der Nager ist im ganzen Gersprenzgebiet bis Reichelsheim anzutreffen – ein Revier grenzt an das nächste.« Auch in Seitenbächen wie Fischbach, Dilsbach und in der Semme ist er zu finden. »Die Renaturierung erfolgt kostenlos, wenn man ihm Fläche zur Verfügung stellt.«
»Eine Fischtreppe, die funktioniert«
Gemeinsam mit Niklas Korb und Alexander Späth mache ich mich auf den Weg zum Dilsbach, einem westlichen Zufluss der Gersprenz. Hinter Spachbrücken schlängelt er sich durch ein kleines Tal, gesäumt von Hügeln und Wäldern. In Gummistiefeln führt uns der Flussexperte durch die Auenlandschaft, die der Biber in den letzten Jahren geschaffen hat. Mit dabei ist Fine, Späths schwarze Labrador-Ridgeback-Hündin. Wir wandern über überschwemmte Wiesen und erkunden die Teichlandschaft am Dilsbach. »In dem Abschnitt hat der Gewässeringenieur drei Dämme angelegt«, verrät Korb. Durch die Aktivitäten des Bibers hat sich dem hohen Fischbestand eine neue Pflanzen- und Unterholz-Vielfalt entwickelt, die auch den Vögeln zugutekommt.
Der am Bach ansässige Tennisverein wehrt sich gegen den nicht bei allen beliebten Flussbewohner. Niklas Korb berichtet: »Ein paar Mitglieder zerstören regelmäßig die Dämme, weil ein Platz immer wieder unter Wasser steht.« Dieser liegt unterhalb des Grundwasserspiegels. »Als Folge denkt der Biber, er habe einen Baufehler gemacht und baut den Damm nicht nur nach, sondern immer höher«, sagt er grinsend.
»Früher war hier nur der kleine Bach, der entlang der Straße floss, umgeben von Wiesen«, sagt Alexander Späth. Heute ist der Dilsbach hier von einer 20 Meter breiten Aue umgeben. Er zeigt auf eine von Schilf gesäumte Umgehung, die der Biber angelegt hat. »Hier fließt jetzt das Wasser durch, was bedeutet, dass hier strömungsliebende Fischarten durchwandern können.« Korb ergänzt: »Das ist mal eine Fischtreppe, die funktioniert!«
»Unser dringlichstes Problem der Zukunft wird sein: Woher bekommen wir Trinkwasser?«
Alexander Späth, Gewässerwart der Interessengemeinschaft Gersprenz
Wie steht es um die Renaturierung?
Einen Biber sehen wir nicht, dafür jede Menge Biberspuren, eine Nutria und ein Reh. Fine entdeckt einen Damm, der sich noch im anfänglichen Baustadium befindet. Einige Bäume sind dem Nagetier zum Opfer gefallen, wie sich am abgenagten Stamm erkennen lässt. Bemerkenswert ist der Gewinn an Artenvielfalt, den der Gewässeringenieur hier geschaffen hat: Insekten, Graureiher, neue Pflanzenarten. »Jedes Jahr haben wir eine neue Art dabei«, sagt Alexander Späth, der als Gewässerwart regelmäßig Proben nimmt: Heute ist es die Sibirische Sumpfiris, die er begeistert fotografiert. Ich merke, wie sehr den beiden die Gersprenz am Herzen liegt. Nicht nur durch ihr gemeinsames Hobby, das Angeln, sondern auch durch den Naturschutz. Das ist ein Grund, warum sich die Angler in Vereinen engagieren. »Damit wir etwas bewirken können«, ist Vorstand Korb überzeugt.
Kritisch sieht Späth einige Renaturierungen. Zwar befürwortet er das Vorhaben der Stadt Reinheim, die hier wegen der Biberdämme die Straße höher legen will. »Was die Behörden unter Renaturierung verstehen, ist eine Verschlechterung der bisherigen Situation«, sagt er. Als Beispiel nennt er ein Projekt bei Groß-Zimmern: »Da wurde für über 700.000 Euro bis auf den Auelehm gegraben.« Das Gewässer wurde breiter, die Böschungen flacher – und die Fließgeschwindigkeit geringer. Damit sich Gewässer gut entwickeln können, brauche es aber eine gewisse Strömung. »Für 10.000 Euro hätte man aus der Ufersicherung, meist aus Steinen und Kies, eine funktionierende Renaturierung schaffen können. Ohne den Fluss aufreißen zu müssen.«
9. Dezember 2024
Exkursion zur Gersprenzquelle | Neunkircher Höhe
Zurück zum Ursprung
Die letzte Etappe steht an: Gemeinsam mit Marvin mache ich mich auf die 45-minütige Autofahrt in Richtung Neunkircher Höhe, wo sich die Quelle befindet. Von hier fließt die Gersprenz nordwärts durch das Gersprenztal. Ab dem Reinheimer Hügelland weitet sich das Tal. Der Fluss teilt sich in mehrere Arme auf, die als Mühlkanäle und später als Stadt- und Burggräben dienten, und fließt über Groß-Zimmern weiter in Richtung Dieburg.
Als wir die Kreisstadt in Richtung Odenwald verlassen, bin ich aufgeregt. Ich werde über den Tellerrand unseres Wohnortes schauen. Je näher wir der Gersprenzquelle kommen, desto mehr verändert sich die Landschaft – erst fahren wir durch Kleinstädte wie Reinheim und Groß-Bieberau, dann durch die Dörfer des Odenwaldes. Es wird hügeliger, die Dörfer werden kleiner, uriger. Wälder, Wiesen, Felder, kleine Teiche und Weiher durchziehen die Landschaft. Kurz vor Ende der Autofahrt erinnert mich die Gegend an meine Heimat, wenn man die Steige auf die Hochebene der Alb hinauffährt. Auf dem etwa einen Kilometer langen Weg zur Quelle sagt Marvin: »Das war echt ein Abenteuer in den letzten Wochen. Nach all den Entdeckungstouren erfahren wir jetzt, wo die Gersprenz entspringt.« Marvin war früher nie viel in der Natur, er hat einen anderen Bezug zu ihr. Doch seine Einstellung bestätigt mir, was ich zu Beginn der Reportage vermutet habe: Dass eine so intensive Auseinandersetzung mit einem Gewässer auch etwas mit einem persönlich macht.
»Nach all den Entdeckungstouren erfahren wir jetzt, wo die Gersprenz entspringt.«
Marvin Korndörfer, mein Partner und Flussbegleiter
Nachdem wir einem kleinen Holzschild mit der Aufschrift »Gersprenzquelle« folgen, liegt sie vor uns: das Ziel unserer Reise und der Ort, an dem alles beginnt. Die Quelle ist von einer kleinen Steinmauer umgeben, man merkt kaum, dass hier Wasser fließt. Sie ist als »Naturdenkmal Gersprenzquelle« ausgewiesen. Das Gelände ist hier 605 Meter über dem Meeresspiegel hoch, 62 Kilometer weiter, an der Mündung in den Main, sind es nur noch rund 100 Meter über Normalnull. Die Gersprenzquelle ist auch die Quelle des Mergbachs, dem größeren Quellbach des Flusses. Nach etwa elf Kilometern vereinigen sich Mergbach und Osterbach südwestlich des Reichelsheimer Ortsteils Bockenrod – und die »eigentliche« Gersprenz entsteht.
Das Spiegelbild der Gersprenz
Die Umgebung der Quelle nehme ich als Spiegelbild der Gersprenz wahr. Der Wald wirkt hier wild und unberührt. Man sieht, wo die Natur ihre Spuren hinterlassen hat, wo vermutlich Stürme gewütet haben, manchmal gibt es kleine Freiflächen im Wald. In der Ferne stehen kahle Fichten, die dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen sind. Wer genauer hinsieht, erkennt die Spuren des Menschen. In der Nähe befindet sich eine Kulturlandschaft, die hier für den Anbau von Tannen genutzt wird. Insgesamt gibt es eine Vielfalt an Bäumen, manchmal zu dicht gepflanzt, das Ergebnis falscher Forstwirtschaft. Zwischen Laub, Baumstümpfen und Totholz finde ich etwas anderes: Naturverjüngung. Viele kleine Nadelbäume, die auf ganz natürliche Weise nachwachsen.
Sind wir auf dem richtigen Weg?
An der Quelle geht es ihr gut, mit zunehmender Breite beginnen die Herausforderungen. Die Gersprenz hat ihnen standgehalten. Dass wir Menschen die Natur zum Überleben brauchen, ist heute auch in den Ministerien angekommen. Jetzt gibt es hohe Umweltauflagen, Richtlinien und Renaturierungsprojekte. Das Schöne ist: Die Gersprenz verrät uns, wie es ihr geht, und wir können ihr helfen, sich zu erholen. Der Mensch ist kein Gewässerexperte; was er umsetzt, führt nicht selten zu weiteren Problemen. Ein Blick auf den Biber zeigt, dass er einen Flussabschnitt in ein Biotop mit einer enormen Artenvielfalt verwandeln kann. Es ist gut, dass die Natur immer mehr geschützt wird. Aber vielleicht sollte sich der Mensch ein wenig zurückziehen und die Natur mehr sich selbst überlassen, sie »Natur sein lassen«. So wie sie es früher, ursprünglich, getan hat.
16. Januar 2025
Epilog
Wenn ich heute durch Münster zum Campus fahre, bin ich für einen Moment nicht mehr die genervte Autofahrerin, die durch eine fremde Umgebung voller Staus und roter Ampeln fährt. Wenn ich die Brücke passiere, halte ich für einen Augenblick inne. Fühle mich ihr ganz nah. Ich denke an die vielen Spaziergänge, die ich unternehmen möchte, um die Gersprenz besser kennenzulernen. Und um das Gefühl von »Heimat« zu stärken, das sich seit der Recherche in mir entwickelt hat.