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Bleiben Sie mir bei der Nachhaltigkeit! Plädoyer für einen oft missverstandenen Begriff

Von Daniel Fischer

Dass Nachhaltigkeit (als Idee) bzw. nachhaltige Entwicklung (als Prozess zu ihrer Erreichung) unscharf bestimmt und daher beliebig interpretierbar sind, gehört zu den häufigsten Klagen in der Diskussion um eine journalistische Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit (siehe Bojanowski, 2014; Humburg et al., 2013, S. 10f.). Auch im Rahmen des Fachworkshops „Nachhaltigkeit kommunizieren“ im Oktober 2014 in Darmstadt wurde diskutiert, ob es sich bei der Nachhaltigkeit nicht doch um Wohlfühlsprech, einen Greenwashing-Begriff oder eine Mode handele, die bald schon wieder vergehe. Es sei ja, so der Einwurf einer teilnehmenden Person, gar so, dass sich nicht einmal die Wissenschaft auf einen Begriff einigen könne und dies doch bitte zunächst einmal tun solle, bevor diese Aufgabe an den Journalismus delegiert werde.

Hauptreferent Dirk Metz führte als anschaulichen Beleg für die vorgebliche Beliebigkeit des Begriffs das Beispiel eines Zeitungsartikels über einen Schachverein an, dessen Nachwuchsarbeit sich „nachhaltig“ auszahle. Freilich drückt sich hierin ein alltagssprachliches Verständnis des Begriffs aus, das ihn als wohlklingendes Synonym zu „langfristig“ oder „besonders intensiv“ benutzt, und das übrigens im Jahr 2014 noch immer über die Hälfte aller Verwendungen des Begriffs Nachhaltigkeit in überregionalen deutschen Zeitungen zugrunde lag (Fischer, Haucke & Sundermann, 2017). Mit dem politischen und normativen Bedeutungsgehalt, mit dem der Begriff seit beinahe einem Vierteljahrhundert einen Diskurs über eine gerechte und ökologisch verträgliche Gestaltung einer lebenswerten und lebensfähigen Zukunft bezeichnet, hat dies jedenfalls nichts zu tun.

Dass positiv besetzte Begriffe wie Freiheit oder Gerechtigkeit missbraucht werden, ist eine natürliche Begleiterscheinung, auf die bereits mehrfach hingewiesen wurde (siehe z.B. das Interview mit Uwe Schneidewind in Deutsche UNESCO-Kommission, 2012). Aus derartigen Missbräuchen die Konsequenz zu ziehen, das diskursive Feld zu räumen, halte ich für einen Fehlschluss. Das Einstimmen in den Chor des Abgesangs des Begriffs hat nichts anderes zur Folge als die Deutungshoheit denen zu überlassen, die die positive Dividende des Begriffs aussaugen, solange sie trägt, um anschließend zum nächsten positiv besetzten terminologischen Resonanzraum weiterziehen. Oder anders ausgedrückt: die Uneindeutigkeit des Nachhaltigkeitsbegriffs sollte kein Grund sein, ihn schlichtweg auszublenden, sondern uns Anlass geben, eben jene Deutungskämpfe sichtbar zu machen und ihn auf diese Weise auch als politischen Begriff analytisch zu schärfen.

Die Idee der Nachhaltigkeit ist keine DIN-Norm

Das Wehklagen darüber, dass man sich nicht einmal in der Wissenschaft auf ein gemeinsames Verständnis bzw. besser noch: eine gemeinsame Definition des Begriffes einigen könne, liegt zum einen ein fragwürdiges Verständnis von Wissenschaft als homogen-objektiver Deutungsmacht, zum zweiten aber auch ein Missverständnis des Begriffes selbst zugrunde. Wissenschaft kann, selbst wenn sie Sustainability Science heißt, nicht wie bei einer DIN-Norm verbindlich festlegen oder vorgeben, was Nachhaltigkeit zu bedeuten habe. Was sie aber kann ist, verschiedene Verständnisse analytisch auszuleuchten und den Begriff in seinen Verwendungszusammenhängen zu schärfen.

Mit dieser Intention soll hier anhand von drei Einwürfen aufgezeigt werden, wie sich der Idee der Nachhaltigkeit auf alternative Weise nähern lässt. Im Folgenden will ich knapp drei verschiedene Zugänge zu dem Bedeutungshorizont hinter dem Begriff der Nachhaltigkeit skizzieren, von denen ich glaube, dass sie das Nachdenken über Nachhaltigkeit befruchten und als Referenz- und Orientierungspunkte für eine Debatte jenseits des Worthülsenvorwurfs dienen können.

Daniel Fischer ist Junior-Professor für Nachhaltigkeitswissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg (Quelle: Univ. Lüneburg)

Evolution der Nachhaltigkeitsverständnisse

Ein weit verbreiteter Ausgangspunkt ist das sogenannte „Drei-Säulen-Modell“ nachhaltiger Entwicklung. Dieses wurde Mitte der 1990er popularisiert maßgeblich durch die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ des Deutschen Bundestages. Als Ziel einer nachhaltigen Entwicklung sieht es die gleichberechtigte und gleichwertige Verbesserung von Ökologie, Ökonomie und Sozialem vor. Als ein Verdienst dieses Modells kann gelten, dass es die integrative Betrachtung verschiedener Entwicklungsdimensionen greifbar und einprägsam verkörperte. Diese illustrierende Funktion kann jedoch zugleich auch als die große Schwäche dieses Modells gelten: sowohl die Anzahl der „Säulen“ als auch ihr Verhältnis zueinander wurden in der Folge zum Teil sehr kontrovers diskutiert. Warum etwa stellt die Wirtschaft eine eigene „Säule“ dar, die Politik oder die Kultur jedoch nicht? In der Literatur finden sich als Ergebnis dieser Diskussion zahlreiche Vorschläge zur Erweiterung der drei Säulen vor („X-Komponenten-Modelle“), vom Lüneburger Vier-Säulen-Modell (Stoltenberg & Michelsen, 1999), das die Kultur hinzufügt, über Fünf-Säulen-Modelle wie bei Bund-Länder-Kommission (BLK, 1998), das zusätzlich eine globale Dimension fordert, bis hin zum sechszackigen Stern beim Osnabrücker Erziehungswissenschaftler Gerhard Becker (Becker, 2017), der die klassischen drei Säulen um Bildung, Gerechtigkeit und Partizipation erweitert. Hinter diesen wie akademischer Spleen wirkenden Vorschlägen stecken aufgeladene Debatten, die jedoch gegen das Klagelied des bedeutungsleeren Begriffs kaum zu Gehör kommen. Dabei wurden nicht nur zur Anzahl der zu berücksichtigenden Dimensionen, sondern auch zum ihrem Verhältnis zueinander sehr unterschiedliche Vorschläge vorgelegt: von der klassischen Metapher der nebeneinanderstehenden „Säulen“, über Schnittmengenmodelle bis hin zu Teilmengenbeziehungen (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: das „Drei-Säulen-Modell“ nachhaltiger Entwicklung

In der Tat hat es lediglich die geringste Informationseinheit des Drei-Säulen-Modells zu breiterer Bekanntheit gebracht, nach der es bei der Nachhaltigkeit „irgendwie“ um Umwelt, das Soziale und die Wirtschaft gehe. Das unverbundene Nebeneinander dieses „irgendwie“ hat Karl-Werner Brand und Georg Jochum (2000) einst zu dem schönen polemischen Bild des dreispaltigen Wunschzettels inspiriert, in dem jeder Akteur seine Interessen unterzubringen vermag. Aus der Kritik der bloßen Addition von Aspekten entstand insbesondere in der unternehmerischen Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit das triple-bottom-line-Modell, das nachhaltige Entwicklung in der Schnittmenge der drei Dimensionen verortete: nachhaltig ist Entwicklung nur dann, wenn sie nicht isoliert einer Dimension diene, sondern allen.

Dem gegenüber sehen Teilmengenmodelle eine Gewichtung und Hierarchisierung der Dimensionen vor: insofern sich gesellschaftliche Entwicklung innerhalb ökologischer Systeme vollziehe und das Wirtschaften der gesellschaftlichen Entwicklung diene, sehen entsprechende Modelle diese Systeme als ineinander eingebettet an. Das vielleicht jüngste, inzwischen weit verbreitete Modell ist der sogenannte OXFAM-Doughnut, benannt nach der britischen Nichtregierungsorganisation OXFAM in Anlehnung an die Form eines Donuts. Die für OXFAM tätige Ökonomin Kate Raworth schlug anlässlich des Weltgipfels Rio+20 im Jahr 2012 vor, Nachhaltigkeit als einen Korridor zu verstehen. Entwicklung müsse, um nachhaltig zu sein, zum einen gewährleisten, unterhalb planetarischer Belastungsgrenzen zu bleiben, um die Stabilität und Tragfähigkeit ökologischer Systeme nicht zu gefährden. Sie müsse zugleich aber auch sicherstellen, dass ein Mindestmaß sozialer Grundsicherungen vorhanden ist, das es allen Menschen ermöglicht, ein gutes Leben zu führen. Der durch entsprechende Mindeststandards und entsprechende Maximalstandards bestimmte Korridor stelle den Handlungsraum für eine gleichermaßen sichere und gerechte Entwicklung der Menschheit dar. Bedeutsam an diesem Korridormodell erscheint, dass die Wirtschaft hier nicht länger als eine eigene Dimension oder Säule betrachtet wird, sondern als eine von mehreren Voraussetzungen für ein gutes menschliches Leben aufscheint, ansonsten aber keinen Eigenwert mehr darstellt.

Nachhaltigkeit als Perspektive und Aushandlungsprozess

Nachhaltigkeitsverständnisse unterscheiden sich somit mitunter gravierend, etwa im Hinblick darauf, welchen Wert sie Natur zuschreiben oder welches Gerechtigkeitskonzept ihnen zugrunde liegt. Der britische Wissenschaftler Bob Hopwood hat im Jahr 2005 mit Kollegen verschiedene politische Nachhaltigkeitsverständnisse daraufhin kartiert und drei Lager ausgemacht: solche, die nachhaltige Entwicklung innerhalb bestehender Strukturen für möglich halten (Status Quo), solche, die grundsätzliche Reformen für nötig halten, ohne allerdings bestehende Strukturen vollständig infrage zu stellen (Reform), und solche, die eine radikale Transformation bestehender Wirtschafts- und Herrschaftsordnungen für nötig erachten (Transformation).

Eine weitere einflussreiche Unterscheidung von Nachhaltigkeitsverständnissen stammt von den Greifswalder Umweltethikern Konrad Ott und Ralf Döring. Ott und Döring fragen danach, was erhalten (sustained) und was entwickelt (developed) werden soll, und betrachten dabei insbesondere die Frage der Austauschbarkeit von Naturkapital durch andere Kapitalarten wie z.B. Humankapital oder Sachkapital. Positionen, die von der Erhaltung bzw. Vermehrung des Gesamtkapitals ausgehen und dieses als nachhaltig betrachten, dabei aber den Austausch von Naturkapital (bspw. Aussterben von Pflanzen- und Tierarten) durch Sachkapital (neue medizinische Behandlungsmethoden) als legitim betrachten, bezeichnen Ott und Döring als „schwache“ Nachhaltigkeit. Demgegenüber gehen Positionen „starker“ Nachhaltigkeit davon aus, dass das Naturkapital einen Eigenwert besitze, um seiner selbst willen zu schützen und vermehren sei und entsprechend nicht durch andere Kapitalarten ausgetauscht werden dürfe. Auch wenn diese Perspektive auf den ersten Blick abstrakt und lebensfern wirkt – bei vielen Konflikten (Naturschutz vs. wirtschaftlich-technologische Entwicklung, etwa beim Bau einer neuen Flughafenlandebahn im Lebensraum seltener Tierarten) sind es genau diese Fragen und Konflikte, die hier eine Rolle spielen.

Zwei, die sich brauchen: Nachhaltigkeit und Journalismus

Nachhaltige Entwicklung stellt ein alternatives Entwicklungsmodell vor, das sich eben nicht an der Optimierung unseres Wohlstands heute in unserer Volkswirtschaft orientiert, sondern von einer weitergehenden Verantwortung ausgeht. Diese normativen Prämissen muss man freilich nicht teilen – sie können einem auch egal sein. Wenngleich eine offene Ablehnung von Vorstellungen einer Gerechtigkeit innerhalb und zwischen Generationen eher die Ausnahme ist, so ließen sich individuelle und kollektive Handlungspraktiken durchaus so interpretieren, wenn man an die weitgehende Ignoranz der Konsumenten in Bezug auf die Gewährleistung verantwortlicher Produktionsbedingungen oder die Nichteinhaltung von Finanzzusagen zur Entwicklungszusammenarbeit oder dem Verfehlen von Klimazielen in der Politik denkt.

Natürlich lässt sich über jede Herausforderung einzeln schreiben und berichten. Natürlich muss nicht ständig der Begriff „Nachhaltigkeit“ als Etikett über allem schweben. Wie aber will man präzise journalistisch über das Phänomen berichten, ohne die Zusammenhänge und Konflikte darzustellen, die mit der Perspektive der Nachhaltigkeit fokussiert werden? Die spannenden Fragen beginnen dort, wo das Klagen über die Unbestimmtheit des Nachhaltigkeitsbegriffs aufhören. Die Idee der Nachhaltigkeit stellt uns vor die Aufgabe, über diese Wertfragen zu streiten und den Korridor zu definieren, den wir als Gesellschaft für unsere zukünftige Entwicklung anvisieren wollen. Dies ist keine technische Frage, sondern eine Frage der Aushandlung. In demokratischen Gesellschaften sollte eben dieser Aushandlungsprozess ein öffentliches, diskursives Projekt sein. Für das Gelingen dieses Projektes können wir es uns nicht leisten, auf den Beitrag des Journalismus zu verzichten.

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