„Earthing“ – Barfuß durch das Wald Wohnzimmer

Der schattige Wald erstreckt sich majestätisch vor mir. Eine rettende Zuflucht vor der heutigen Hitze. Komplett verschwitzt trete ich in die kühlenden Schatten unter den dichten Baumkronen des Waldkunstpfades in Darmstadt. Heute möchte ich eine Praxis namens „Earthing“ testen und evaluieren. Laut Anhängern dieser Praxis verbindet man sich durch Barfußlaufen auf natürlichen Oberflächen wie Gras, Erde oder Sand mit der Natur und nutzt die elektrische Energie der Erde, um das eigene Wohlbefinden und die Gesundheit zu fördern. Ich entscheide mich für den etwas weniger begangenen Weg. Raus aus den Socken fühlt es sich an, als würden meine Füße aufatmen. Der Waldboden an dieser schattigen Stelle fühlt sich beinahe nass und angenehm kühl an.

Die Praxis des Earthing hat ihre Wurzeln in der Naturverbundenheit alter Kulturen: Viele indigene Völker betrachteten die Erde als Quelle von Energie und Heilung. Der direkte Kontakt mit der Erde war selbstverständlich, da Menschen barfuß gingen oder im Einklang mit natürlichen Materialien lebten. In der modernen Zeit wurde das Konzept des Earthing vor allem durch die Arbeiten von Clint Ober bekannt gemacht. Ober, ein ehemaliger Kabel-TV-Unternehmer, begann sich in den späten 1990er Jahren für die gesundheitlichen Auswirkungen des direkten Körperkontakts mit der Erde zu interessieren. Seine Beobachtungen führten zu einer Reihe von Studien, die darauf hindeuten, dass Earthing verschiedene gesundheitliche Vorteile haben könnte. In der modernen Gesellschaft, in der Menschen die meiste Zeit in isolierenden Schuhen und Gebäuden verbringen, geht dieser Kontakt oft verloren. Earthing soll dazu beitragen, diese natürliche Verbindung wiederherzustellen.

Denn Earthing, auch als Grounding bekannt, basiert auf der Idee, dass direkter Kontakt mit der Erdoberfläche die elektrische Ladung des menschlichen Körpers beeinflusst. Laut Dr. Robert O. Becker, ein amerikanischer Forscher auf dem Gebiet der Elektromedizin, hat die Erde eine negative Ladung durch freie Elektronen in ihrer Oberfläche. Diese Elektronen können angeblich beim Kontakt auf den Körper übertragen werden und wirken als natürliche Antioxidantien, die freie Radikale neutralisieren. Dies könnte Entzündungen und oxidative Schäden im Körper reduzieren, indem es den Körper mit Elektronen versorgt, bevor freie Radikale gesunde Zellen angreifen können.

Neben der Linderung chronischer Schmerzen berichten Earthing-Praktizierende häufig auch von einer Reduktion von Stress oder Angstzuständen, einer Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens und einer Verbesserung der Schlafqualität. Dies wird durch eine mögliche Regulierung des Cortisolspiegels unterstützt, was zu einem ausgeglicheneren Schlaf-Wach-Rhythmus führt.

Persönliche Erfahrung

Nachdem ich ein wenig die kühlende Wirkung der Erde genossen habe, entdecke ich ein paar Meter vor mir einen Sonnenfleck mit Laub, den ich als nächstes erspüren möchte. Im Kontrast zum Waldboden fühlen sie sich warm an und knistern lustig unter meinen Füßen. Später pieksen mich spitze Kieselsteine, was etwas unangenehm ist, aber dafür breitet sich durch die natürliche Massage und die daraus folgende Durchblutung eine angenehme Wärme in meinen Sohlen aus. Trotzdem wird es langsam anstrengend, deshalb freue ich mich über jeden Grashalm, der mich beim Vorbeigehen sanft an meinen Beinen entlang streicht und die Grasbüschel, die sich hin und wieder auf meinem Weg befinden. Sie sind wie erfrischende Inselchen unter meinen Füßen und bieten mir kurze Momente der Erleichterung. Ich brauche eine kleine Pause und setze mich auf einen gefallenen Baumstamm. Grounding beinhaltet auch das Ertasten mit den Händen, also setze ich mich in einem Hocksitz auf den Stamm und fühle die alte Rinde des schweren, robusten Stammes mit den Händen ab. Es ist ein befreiendes, etwas primitives aber auch sinnliches Gefühl. Sich einmal die Erlaubnis zu nehmen, die Natur bewusst anzufassen und zu erspüren, statt sie wie sonst nur zu beobachten. Plötzlich frage ich mich, wie es sich wohl anfühlen würde, den Baumstamm zu umarmen. Ich lege mich mit meinem ganzen Körper auf den Stamm und versuche dabei, mich mental fallen zu lassen, statt mir Sorgen um potenzielle Passanten und ihre Gedanken zu machen, und schließe meine Augen. Nach einer Weile entspanne ich mich vollkommen, denn es scheint, als würde der Baumstamm mich umarmen, statt andersherum, ich fühle mich angenommen und behütet. Leider schreckt mich dann doch ein lautes Knacksen in der Ferne des Waldes aus meinem Zen-Zustand auf. Ich laufe weiter. Diesmal entscheide ich mich, vom Weg abzuweichen und in den Wald vorzudringen. Vorsichtig taste ich mich voran, denn ich muss an einem Ameisenhaufen und an Dornen eines Himbeerbusches vorbei. Doch das Risiko lohnt sich: vor mir überzieht ein kleiner Teppich aus Moos den Waldboden. Ich atme auf, als ich ihn betrete, die Struktur dieser Moosart, das Widertonmoos, ist wie Polster unter meinen Füßen. 

Als ich den Wald wieder verlasse, erscheinen mir die Zivilisation und der Straßenverkehr, in den ich eintauche, umso lauter. Zwar ist die Polsterung meiner Sneaker jetzt auch sehr angenehm, aber es hat sich natürlich und richtig angefühlt, barfuß zu laufen. Meine Füße sind nun angenehm warm und ich verspüre eine zufriedene Müdigkeit.

Ich denke darüber nach, inwiefern die positiven Wirkungen von Earthing auf mich zutreffen. Ich bin definitiv weniger gestresst als vor ein paar Stunden und fühle mich belebt. 

Heute Nacht schlafe ich aber genauso schnell ein und fühle mich nicht mehr oder weniger erholt wie an anderen Tagen. Ich entscheide mich, mein Experiment etwas zu verlängern und laufe eine knappe Woche täglich barfuß nach Hause. Auch an allen anderen Tagen fühlt es sich befreiend an. Aber dennoch waren die Veränderungen so subtil, dass ich mir nicht sicher sein kann, ob es wirklich auf die Praxis des Earthing zurückzuführen ist oder auf das warme, sonnige Wetter und ein gutes Grundgefühl in der Natur.

Das Konzept bleibt auch unter Wissenschaftlern umstritten. “Viele Behauptungen über die gesundheitlichen Vorteile des Erdens basieren auf sehr kleinen und methodisch fehlerhaften Studien.”, merkt Dr. Steven Novella, Neurologe an der Yale University, an. Einige Skeptiker, wie Dr. David Gorski, Onkologe und Wissenschaftsautor, bezweifeln auch die grundlegende Annahme, dass der Kontakt mit der Erde die elektrische Ladung des Körpers auf eine signifikante Weise beeinflussen kann. Sie argumentieren, dass die behaupteten Effekte des Earthing eher auf den allgemeinen Nutzen von Bewegung im Freien und den Kontakt mit der Natur zurückzuführen sind, anstatt auf spezifische elektrische Effekte.

Trotz dieser Kritikpunkte bleibt Earthing eine beliebte Praxis für viele Menschen, die nach natürlichen Wegen suchen, ihr Wohlbefinden zu verbessern und den direkten Kontakt mit der Erde als wohltuend und erdend empfinden. Ich finde unzählige Erfahrungsberichte und Kommentare von Menschen, die berichten, dass sich ihre chronischen Schmerzen nach nur wenigen Minuten signifikant verbessern oder wie sehr sich ihre Angstzustände nach einem Jahr des Earthing entweder stark reduziert haben oder komplett verschwunden sind. Ein Nutzerkommentar unter einem Earthing Video lautet: „Ich bin ein wissenschaftlich orientierter Mensch und dachte, das sei nur Humbug, bis ich es selbst getestet habe. Ich habe es ausprobiert, um das Konzept der Erdung zu widerlegen, daher waren die Effekte kein Placebo, da ich keine Wirkung erwartet hatte (…). Die Wirkung beim ersten Mal war erstaunlich. Ich fühlte mich zufrieden und ruhig, mein Schlaf war viel besser und auch die Meditation wurde viel tiefer und angenehmer.” Auch wenn für mich persönlich keine erheblichen Veränderungen in meinem Wohlbefinden aufgetreten sind, kann ich das Barfußlaufen im Freien, besonders auf weichem Gras oder Moos, trotzdem als eine Methode des Entspannens und als sinnliches Erlebnis der Tastsinne nur weiterempfehlen. 

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