Tiefe, grobe Furchen durchziehen die raue Rinde des Baumstammes, der sich zehn Meter hinauf in den trüben Winterhimmel streckt. Dicke, moosbewachsene Äste strecken sich vom Stamm aus in alle Himmelsrichtungen. Gehen auseinander, spalten und verzweigen sich, bis die letzten, bleistiftdicken Ausläufer das Ende des Astes bilden. Das Grün des Mooses zeichnet einen starken Kontrast gegenüber der hellen graubraunen Farbe des Holzes, welches im weißen Licht der Wintersonne, noch fahler scheint. An manchen Stellen fleckig, die grau-braune Färbung der Rinde durchschimmernd, an anderen Stellen flächig und deckend, von kräftigem Grün: Das Moos überzieht die Äste des Baumes. Wie alte, müde Finger strecken sich die dünnen Äste aus und halten beinahe andächtig inne. Sie wirken spröde und zerbrechlich, während der massive Stamm, sie alle fest an sich hält.
Vereinzelte, braune Blätter zieren die Enden der Äste und wehen sanft im Wind auf und ab. Die letzten Überlebenden des Winters, die sich über den Jahreswechsel hinweg stur und unnachgiebig an die ansonsten bereits kargen Äste klammerten. Ein Vogelnest sitzt verlassen in den oberen Baumwipfeln zwischen dem Geäst. Und so zerbrechlich der Baum jetzt auch aussehen mag: In ein paar Wochen werden auch die letzten braunen Blätter die Äste verlassen haben und noch bevor das letzte Blatt den Boden berührt, werden die ersten neue Triebe bereits blühen, um dem Baum neues Leben einzuhauchen und den Frühling anzukündigen. Müde schließe ich für einen Moment die Augen und der Baum vor meinem Bürofenster verschwindet. Ich denke an kommende Tage, in denen ich nicht mehr den immer selben Baum sehen muss und sorgenfrei durch sonnengeflutete Wälder gehe. Der Wind rauscht zwischen den Baumkronen, das Meer imitiert ihn in der Ferne. Ich öffne die Augen. Die Eiche steht unbewegt und stumm vor meinem Fenster. Von allem unberührt wird sie auch in den kommenden Jahrzehnten noch unbewegt und stumm vor diesem Fenster stehen. Die alten dünnen Finger ausgestreckt.
Ein Beitrag von Felix Wolf