2199, Kommunenverbund Kalifornien, Schulgebäude
Jennifer muss sich beeilen, sie kommt zu spät zum Unterricht ihrer Klasse, weil sie in einer
langen Diskussion im Rathaus die Zeit vergessen hatte. Als sie den Raum betritt, spielen die
meisten Kinder noch an ihren Media-Boxen.
Jennifer: Hallo, legt eure Boxen weg, am liebsten auf die Fensterbank, dann lenken sie euch
nicht immer so ab.
Tom tuschelt mit Niko.
Tom: Ich finde es nervig, dass sie uns unsere Sachen weglegen lässt, Alex integriert die
Boxen immer in den Unterricht, ich meine, wir haben 2199 und nicht 2180.
Niko: Immerhin lädt meine Batterie jetzt etwas auf, ich packe meine Box immer in die
Hosentasche und sie sieht echt selten Sonne.
Jennifer: Bitte Ruhe jetzt! Setzt euch alle hin, damit wir mit dem Unterricht beginnen
können. Heute geht es um unsere Demokratie und einige von euch dürfen bald wählen, also
ist das für euch alle wichtig.
Der Unterricht beginnt
Stefanie: Dann kann ich ja gehen, ich habe schon letztes Mal gewählt, und mein Vater hat
mir alles erklärt.
Jennifer: Dann kannst du mir ja bestimmt erklären, wie man unser politisches System nennt
und was die grundsätzlichen Prinzipien sind.
Stefanie: Schon wieder so ein theoretischer Quatsch, wozu ist das überhaupt wichtig?
Jennifer: Ihr müsst das System unserer Gesellschaft verstehen, damit ihr daran teilhaben
und es prägen könnt. Nur durch unser System ist die Erde so, wie sie heute ist. In
Geschichte habt ihr bestimmt schon gelernt, wie die Menschheit die Erde in den frühen
2000er Jahren fast zerstört hat. Und jetzt hör auf, dich vor der Frage zu drücken!
Was ist Öko-Anarchismus?
Stefanie: Ok, aber so dumm wie die Leute früher, sind wir heute ja nicht mehr. Ich kann mir
das nicht mal vorstellen.
Unser heutiges System nennt man Öko-Anarchismus. Das bedeutet, dass wir jede Form von
Hierarchie ablehnen, es sei denn, sie existiert aus einem notwendigen Grund. Du sagst zum
Beispiel, dass eine Hierarchie zwischen mir und dir notwendig ist, damit die Bildung effektiv
vermittelt werden kann. Ich sehe das anders.
Jennifer: Und du kannst dich dafür einsetzen, dass wir das ändern, Anarchie ist schließlich
nie perfekt und wir können unsere Gesellschaft immer weiter verbessern. Aber fahre fort.
Stefanie: Im Gegensatz zu den Idioten …
Jennifer: STEFFI!
Stefanie: … zu den Menschen in Texas, wo es einen kommunistischen Anarchismus gibt,
beziehen WIR auch die Tiere mit in diesen Grundsatz ein. Menschen und Tiere sind bei uns
gleichgestellt. Es gibt kein Machtgefälle.
Leon: Mein Onkel in Texas sagt, dass es gar nicht schlimm ist, ein Haustier zu haben, er
sagt, es ist quasi ein Teil der Familie.
Stefanie: BULLSHIT! Würdest du es mögen, wenn man dich einfach im Haus einsperrt,
wenn der Rest der Familie mal weg muss? Oder wenn man dich mit einer Leine um den Hals
durch das Dorf führt? Das ist kein Familienmitglied, das ist ein Sklave. Ich bin froh, dass es
so was bei uns nicht gibt, weil die Verbindung der Natur, und damit auch der Tiere, mit den
Menschen ein zentraler Aspekt unseres Systems ist.
Jennifer: Zurück zu den anderen Grundsätzen Steffi, wir haben nicht mehr so viel Zeit
heute. Was ist noch wichtig für eine anarchische Gesellschaft?
Stefanie: Eine der wichtigsten Grundlagen im Anarchismus ist Einigkeit und Zustimmung.
Das heißt, dass nichts gegen meinen Willen oder den Willen eines anderen unternommen
werden sollte. In Geschichte haben wir gelernt, dass Menschen früher mehr als einen Job
gemacht haben, nur um ihre Familie zu ernähren. Das ist eine Form der Unterdrückung. Das
Ziel in unserer Gesellschaft ist, dass jeder seine Bedürfnisse erfüllen kann und dafür eine
angemessene Leistung nach seinen Fähigkeiten erbringt.
Jennifer: Das war schon ziemlich gut. Aber was unterscheidet unser System denn dann vom
Anarcho-Primitivismus?
Mika: Im Primitivismus wollen die Menschen ohne Technologie oder Landwirtschaft leben,
wir dagegen nutzen die Technologie, um eine lebenswerte und umweltverträgliche
Gesellschaft zu erschaffen.
Jennifer: Genau. Nachdem die Gesellschaft hier in Kalifornien durch die dauerhaften Feuer und Stromausfälle 2120 zusammengebrochen war, wollte ein Teil der Menschen so leben. Ein anderer Teil versuchte, eine neue Gesellschaft aufzubauen und unser Wissen über Natur und Technik zu bewahren. Ich glaube, zu dieser Zeit lernt ihr in Geschichte bald mehr.
Kommen wir jetzt zur Organisation unserer Gesellschaft. Stefanie, du hast gesagt, du hättest schon mal gewählt, was genau hast du da gewählt?
Stefanie: Ich habe den Gemeinderat gewählt, der besteht aus zehn Freiwilligen, die über regionale Themen entscheiden. Zumindest wenn wir Bürger das wollen. Wir leben nämlich in einer liquiden Demokratie. Das heißt wenn wir bei einer Entscheidung stark von der Meinung unseres Repräsentanten abweichen, können wir unsere Stimme auch direkt abgeben.
So stimmt der Repräsentant mit den Stimmen von allen, die ihn gewählt haben. Es sei denn diese Person hat ihre Stimme abgezogen, um sie direkt abzugeben. Möglich wird das durch die Digitalisierung des Abstimmungsverfahrens, durch einen absolut sicheren Server kann jeder von Zuhause seine Stimme selbst abgeben.
Aber wie gesagt, dadurch das es einen Repräsentanten gibt, muss ich mich da nicht jeden Tag drum kümmern, denn meistens passt mir das, was der sagt.
Jennifer: Das hast du schön gesagt, weißt du auch, was passiert, wenn man für eine Person stimmt, die es nicht in den Rat schafft?
Stefanie: Natürlich, automatisch muss man erstmal für alles selbst abstimmen, man kann seine Stimme aber jederzeit zur Wahlstärke eines anderen Kandidaten hinzufügen.
Jennifer: Genau. Außerdem kann jeder seine Stimme jederzeit von einem Repräsentanten abziehen und dann für alles selbst wählen oder die Stimme einem anderen geben. Wenn ein Repräsentant niemanden mehr repräsentiert wird seine Position durch eine Wahl neu besetzt.
Von Gemeinden, Kommunen und Verbänden
Jennifer: Weiß jemand, wie groß eine Gemeinde ungefähr ist?
Mika: Das sind etwa 150 Menschen, oder?
Jennifer: Ja, wir gehen davon aus, dass man etwa 150 Menschen relativ gut kennen kann. Dadurch wollen wir sicherstellen, dass sich die Menschen gegenseitig um ihre Bedürfnisse kümmern können.
Weiß jemand, wie die Gemeinden untereinander zusammenarbeiten?
Helin: Ja, etwa 70 bis 80 Gemeinden bilden eine Kommune. Zu der werden aus jeder Gemeinde zwei Repräsentanten geschickt. Das Wahlsystem funktioniert genauso wie in den Gemeinden.
Jennifer: Richtig. Aber ganz wichtig ist: So wie keine Person verpflichtet ist, in einer Gemeinde zu leben und diese jederzeit wechseln kann, ist keine Gemeinde verpflichtet in einer Kommune zu sein. Aber die Kommunen sind sehr hilfreich, sie erleichtern den Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen den Gemeinden.
So kann eine Gemeinde „A“ den anderen Gemeinden Brot in großen Mengen liefern, eine Gemeinde „B“ stellt dafür das Mehl zur Verfügung und eine Gemeinde „C“ regelt den Warentransport. So sind auch komplizierte Produktionswege, die viele Menschen benötigen, verwaltbar.
Alle Kommunen und die unabhängigen Gemeinden sind im Kommunenverbund Kalifornien organisiert.
DING DONG!
Jennifer: Oh, schade unsere Zeit ist schon um.
Wie genau dieser Verbund funktioniert und warum das Prinzip der „Gegenseitige Hilfe“ so wichtig ist, besprechen wir nächsten Freitag.