„Fernbeziehungen können wir uns ökologisch nicht leisten“
Heute ist unser Jahrestag. Vor genau fünfzehn Jahren habe ich meinen Mann Tiago während meines Auslandssemesters in Brasilien kennengelernt. Zur Feier des Tages koche ich heute Abend für die ganze Familie. Mit dem Fahrrad bin ich auf dem Weg zum Markt, denn ein Blick auf meine Smartwatch verrät mir: Ein bisschen Bewegung fehlt mir heute noch, dann bekomme ich bis Ende des Monats die nötigen Bewegungspunkte zusammen und erhalte von der Krankenversicherung ein Teil meines Beitrags zurück.
Während der Fahrt verliere ich mich in Gedanken. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich in der Dusche das Wasser laufen ließ, während ich mir die Haare shampoonierte. Heute: unvorstellbar. Ich erinnere mich daran, meinen Laptop niemals ausgeschaltet, sondern einfach zugeklappt zu haben. Heute: unvorstellbar. Bestraft werde ich für dieses Verhalten Jahre später: Wegen klimapolitischen Reformen und neuen Gesetzen der Regierung habe ich meine Familie seit Jahren nicht gesehen.
Nach meinem Auslandssemester musste ich für mein Studium zurück nach Deutschland. Es folgte eine harte Zeit für Rafael und mich. Eine Fernbeziehung bedeutet eine Menge Arbeit. Und damit meine ich nicht etwa die Zeitverschiebung, stundenlange Telefonate und die große Distanz. Ich meine all die Nebenjobs, die ich während des Semesters annahm, um soviel Geld zu sparen, dass ich Rafael in den Ferien besuchen konnte. Damals hatte ich noch keine Ahnung, was noch auf uns zukommen würde, dass ich es mir wenig später zwar finanziell, aber nicht ökologisch leisten konnte ihn zu besuchen.
„Liebe“ wird bei der Behörde nicht hoch eingestuft
Auf dem Markt gehe ich vorbei an Bananen, Avocados und Oliven. All das können wir uns in diesem Jahr nicht erlauben. Stattdessen greife ich zu regionalen, saisonalen und unverpackten Lebensmitteln. Denn wer nachhaltig einkauft, der spart Klimapunkte. Der Blick auf meine Smartwatch verrät mir: 30 000 Klimapunkte habe ich bereits gesammelt, noch immer viel zu wenige für eine Reise nach Europa.
Vor zehn Jahren änderte sich alles: Die Regierung griff durch, als es eigentlich bereits zu spät war. Umso strikter fielen die Reformen aus, die der Bevölkerung von einem auf den nächsten Tag aufgelegt wurden – der letzte, verzweifelte und einzig radikale Versuch der Regierung, den Klimawandel zu stoppen, bevor er das Leben auf der Erde für uns Menschen unmöglich macht. Seither dreht sich die Welt nicht mehr um Geld. Gesammelt und gespart werden stattdessen Klimapunkte.
Für einen Flug muss man mittlerweile nicht nur einen sehr hohen Preis zahlen, sondern sich auch bewerben. Bei der Bewerbung wird unter anderem nach dem Grund des Auslandsaufenthalts gefragt. „Liebe“ wird von den Behörden nicht sonderlich hoch eingestuft. Bevorzugt wird, wer eine längere Zeit im Ausland bleiben möchte, wer im Ausland ein Klimaschutzprojekt unterstützen will und wer am meisten Klimapunkte zur Verfügung hat. Wer nicht genügend Punkte für einen Langstreckenflug gesammelt hat, wird als Bewerber nicht mal zugelassen.
Um zusätzliche Klimapunkte zu sammeln, investierte ich also über Jahre in Klimaschutzprojekte, engagierte mich bei der Nachhaltigkeitsinitiative der Universität und nahm an Kursen für einen nachhaltigen Lebensstil teil. So sammelte ich genügend Klimapunkte, um Rafael einmal im Jahr besuchen zu können.
Der Staat finanzierte meinen Umzug nach Brasilien
Auf dem Heimweg entscheide ich mich dann doch für die Straßenbahn. Bezahlen muss ich dafür nicht, zumindest keinen Geldbetrag. Allerdings werden mir beim Einstieg automatisch Klimapunkte von meiner Smartwatch abgebucht, wenn auch nur ein geringer Teil.
Zehn Jahre lang führten wir eine Fernbeziehung. Dann mischte sich der Staat ein: Eine Fernbeziehung sei zu klimaschädlich. Die Behörden machten uns deshalb ein Angebot: Der Staat finanziere meinen Umzug nach Brasilien und helfe mir vor Ort bei der Jobsuche, wenn wir dafür aufhörten, so häufig zu fliegen. Wir nahmen das Angebot an. Seither lebe ich gemeinsam mit meinem Mann in seiner Heimat, weit weg von meiner eigenen. Mittlerweile sind wir zu viert, haben zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge. Nur zu gerne hätte ich ein Drittes. Leider ist das nicht erlaubt. Eine Zwei-Kind-Politik ist mittlerweile weltweit Gesetz, mehr Kinder würden dem Klima schaden.
Gemeinsam engagieren wir uns für einen Gemeinschaftsgarten in der Nachbarschaft
Meine Eltern haben ihre Enkel nie kennengelernt. In den letzten Jahren war es hart genug, genügend Klimapunkte für mich alleine zu sammeln, um meine Familie ab und an zu besuchen. Immer mehr sehne ich mich jedoch danach, meine Familie wieder zu sehen, meinen Eltern meine Kinder vorzustellen und den Kleinen meine Heimat zu zeigen.
Gemeinsam haben Rafael und ich deshalb beschlossen, ab jetzt auf so viel wie möglich zu verzichten, um so viele Klimapunkte zu sammeln, dass wir in einigen Jahren hoffentlich als ganze Familie nach Deutschland reisen können. Seither engagieren wir uns alle vier bei einem Gemeinschaftsgarten in der Nachbarschaft, ziehen uns zuhause warm an, statt zu heizen, essen ausschließlich saisonale Produkte, sparen Strom und investieren unsere finanziellen Ersparnisse in Klimaschutzprojekte.
Zuhause angekommen bin ich unschlüssig, ob ich schon anfangen soll zu kochen, denn ich weiß nicht, wann die anderen zurück sein werden. Ich schaue auf mein Handy, dabei weiß ich, dass der Akku schon seit zwei Tagen leer ist. Aufladen möchte ich es nicht, die Punkte spare ich mir lieber für die wirklich wichtigen Dinge auf. Stattdessen setze ich mich aufs Sofa, lese im Schein einer Kerze ein Buch und warte einfach ab.