Eisbaden – Kalt, härter, besser? Was steckt hinter dem Fitness-Hype?

Ein Text von Lena Katharina Barozzi

Sonntag, 9:10 Uhr, Walldorfer Badesee, Ende November.
Zögernd setze ich den ersten nackten Fuß in den nassen, kalten Sand. Mein erster Impuls: Das ist doch falsch! Eigentlich sollte ich jetzt mit einem Tee und einer warmen Decke gemütlich auf dem Sofa liegen und meinen Lieblings-Podcast hören. Neben dem Sofa leuchten die vielen, kleinen Lichter unseres Weihnachtsbaumes, den wir gestern Abend geschmückt haben… Ein lautes Platschen reißt mich aus meinen Gedanken. Es hilft ja nichts! Entschlossen ziehe ich die zweite Socke aus und bereite mich mental auf mein erstes Eisbad vor.

Wir leben in einer Ära des Komforts: Unsere Wohnungen sind warm, jederzeit haben wir Zugang zu frischem Wasser und Nahrung. Umwelteinflüsse wie Kälte, Hitze oder gefährliche Wetterbedingungen spielen für die meisten von uns keine Rolle mehr. Die natürlichen Stressoren, denen unsere Vorfahren ausgesetzt waren, haben wir erfolgreich aus unserem Alltag verbannt. Doch dieser Komfort hat seinen Preis. Der Mensch lebt nicht mehr im Einklang mit der Natur und ihren Elementen – Widerstandsfähigkeit fehlt unseren Körpern scheinbar gänzlich. Sport und Gesundheit, aber auch ein Lebensstil mit und in der Natur sind Themen, die mich sehr interessieren – ja, sich mir im Zuge der kalten Jahreszeit geradezu aufdrängen. Denn während ich im Sommer, jede Gelegenheit nutze, meinen Alltag draußen zu gestalten, mich frei und stark fühle, stoße ich während der Wintermonate Jahr für Jahr an meine körperlichen und mentalen Grenzen. Neben der Beschäftigung mit der aktuellen wissenschaftlichen Studienlage zum Thema Eisbaden, habe ich mit dem Sporttherapeuten und Fitnesstrainer, Michael Bukac, gesprochen und mich im Rahmen eines Selbstversuchs getraut, ins eisige Wasser zu steigen. 

Warum das Ganze?

Wasser ist für mich mehr als ein Element, es ist mein Rückzugsort, mein Safe-Space. Schon mit vier Jahren erkundete ich in den Sommerferien zusammen mit meinem Vater die Küsten und Buchten Griechenlands, Spaniens und Frankreichs. In den warmen Monaten verbringe ich jede freie Minute an Badeseen, Freibädern und im Ausland natürlich am Meer. Im Winter ziehe ich eine Reise an warme Orte einem Urlaub im Schnee vor. Aus der Sonne und dem Meer schöpfe ich meine Energie, sie sind mein Anker. Nach dem Abitur war klar: Ab nach Spanien und endlich mit und im Wasser leben. So verbrachte ich ein halbes Jahr im Süden Teneriffas und absolvierte meinen Tauchlehrerschein in einer kleinen Tauchschule in Costa Adeje. Draußen sein wird meiner Meinung nach noch immer absolut unterschätzt! Mein Alltag spielte sich ausschließlich im Freien ab. In dieser Zeit hatte ich eine Verbindung zur Natur und vor allem zu mir und meinem Körper, wie ich sie bisher noch nie in meinem Leben gespürt habe. Doch nach sechs Monaten galt es anderen Träumen zu folgen, für die ich meinen Safe-Space nun mal aufgeben musste. Also hieß es: Zurück nach Deutschland. Jeden Tag vermisse ich das Meer, die warmen Sonnenstrahlen, das Leben, das sich draußen abspielt. Als ich begann, mich mit dem Thema Eisbaden zu beschäftigen, entdeckte ich eine neue Perspektive. Warum nicht den Körper so konditionieren, dass er robuster und widerstandsfähiger gegenüber subjektiv unangenehmen Bedingungen wird? Kann man eine zuvor negative Assoziation in eine positive Emotion umwandeln?

Der Trend: Eisbaden als Gesundheitshype

Eisbaden hat sich in den letzten Jahren von einem Nischenphänomen zu einem regelrechten Trend in der Fitness- und Gesundheitswelt entwickelt. Besonders der niederländische Extremsportler und Content-Creator Wim Hof, auch bekannt als der Iceman, hat diesen Trend auf Instagram, TikTok und anderen Plattformen maßgeblich vorangetrieben. Er ist Schöpfer der sogenannten Wim Hof Methode und zweifellos einer der bekanntesten Vertreter des Ice-Bath-Trends. Seine Anhängerschaft schwört auf die von ihm entwickelten Techniken, die neben dem Eisbaden auch Atemübungen und Meditation umfassen. Während meiner Recherche fällt mir auf, dass die meisten Social-Media-Inhalte ausschließlich positive Effekte betonen – diese reichen von neuer Lebensenergie bis hin zu erhöhter Stressresistenz. Und tatsächlich bestätigt die Wissenschaft, dass durch Kaltwasserbäder Muskelkater vorgebeugt und das Herz-Kreislaufsystem aufgrund einer Blutdrucksenkung entlastet wird. Eine nachgewiesene positive Auswirkung des Eisbadens, die vor allem in den sozialen Medien propagiert wird, ist der Detox-Effekt. Denn die Aktivierung des Lymphflusses und des braunen Fettgebewebs (erhöhter Kalorienverbrauch) führt zu einem besseren Transport von Abfallstoffen. Außerdem ist belegt, dass regelmäßige Kälteexposition das Immunsystem stärkt und die Infektanfälligkeit verringert. Immer mehr Fitness-Interessierte schließen sich dem Hype rund um das Eisbaden an, so auch eine Fitness-Community in meiner Heimatstadt Bad Vilbel. Sie alle einen dieselben Ziele: Stärke, Leistungssteigerung und Vitalität. Eisbaden – ein universelles Heilmittel also? Laut Instagram, TikTok und Co. definitiv!

Der Kälte begegnen

Michael Bukac ist zertifizierter Sporttherapeut und Fitnesstrainer. Er leitet das Power-X-Studio in Bad Vilbel und hat in den letzten Jahren eine große lokale Fitness- und Outdoor-Sport-Community aufgebaut. Über meine Anfrage, mich bei meinem Selbstversuch zu begleiten, freut er sich sehr. Denn Michaels Ziel ist es, mehr Menschen über die Vorteile eines Lebens in Bewegung, mit und in der Natur, aufzuklären. Er lädt mich ein, beim wöchentlichen Eisschwimmen teilzunehmen. Bereits eine Woche nach unserem Telefonat fahre ich durch die kleine Einfahrt des Walldorfer-Badesees. Meine Erwartungen: braunes Wasser, inmitten einer tristen Winterlandschaft – November eben. Doch als ich das Ufer erreiche, werde ich vom Gegenteil überrascht. Gruppen von Menschen tummeln sich rund um den braunen Sandstrand. Einige bereiten sich gerade auf den Sprung ins kalte Wasser vor. Neben Spaziergängern, Joggern und Eisbadern, lassen sich auch Stand-Up-Paddler und Surfer samt elektrischem Board nicht von den kalten Temperaturen abschrecken. 

A house next to a lake

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Ich treffe auf den Fitnesscoach und seine Gruppe. Während wir uns mit ein paar Sportübungen aufwärmen, erklärt er, worauf wir gleich achten müssen. Ganz wichtig: Atmen und im richtigen Tempo ins Wasser gehen! Nicht zu schnell und nicht zu langsam. Der Sporttherapeut weist darauf hin, dass durchaus auch medizinische Kontraindikationen existieren, bei denen Eisbaden nicht zu empfehlen ist, ja sogar schädlich sein kann. Ein plötzlicher Kälteschock kann zu einer starken Verengung der Blutgefäße führen, was den Blutdruck massiv ansteigen lässt. Bei Menschen mit Vorerkrankungen, insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Bluthochdruck sowie älteren Menschen ist dies mitunter sehr gefährlich. Kalte Temperaturen erzeugen eine Stressreaktion des Körpers. Ein zu großer Stressimpuls kann zu Herzrhythmusstörungen und Atemproblemen führen. Der plötzliche Sprung ins eisige Wasser erzeugt in diesem Fall einen starken Gegenreflex des Körpers mit plötzlicher Verlangsamung des Pulses und Kreislaufproblemen bis hin zur Bewusstlosigkeit. Darüber hinaus besteht natürlich das Risiko einer Unterkühlung (Hypothermie).

Nach einem kurzen Warm-Up heißt es: Ab ins Wasser! Zielstrebig wate ich in das schlammige mit Laub bedeckte Ufer, einen Fuß nach dem anderen. Sobald ich bis zu den Schultern im Wasser stehe, halte ich inne. Zuletzt tauche ich meine Arme ein, da die Extremitäten am schnellsten auskühlen. Mit Blick auf das gegenüberliegende Ufer beobachte ich meine Atmung. Automatisch hebt und senkt sich mein Brustkorb immer tiefer und schneller. Nach etwa einer Minute breiten sich über meinen ganzen Körper feine Nadelstiche aus, doch es ist nicht schmerzhaft. Ich stoße mich ab und schwimme ein paar Meter, mein Körper ist schwer und taub. „Drei Minuten sind perfekt, fünf Minuten fürs Ego.“, sagt Michael augenzwinkernd. Und weil es eben nicht um das Ego geht, sondern um den richtigen dosierten Impuls für den eigenen Körper und Geist, steigen wir nach dreieinhalb Minuten gemächlich aus dem See. Ich greife nach meinem Handtuch, doch der Sporttherapeut weist mich an, mit dem Abtrocknen noch etwas zu warten. So kann der Körper den Kältereiz noch ein paar Minuten verarbeiten. Während wir gemeinsam auf das nun stille Wasser blicken, erzählt er mir, dass Kälteexposition als Bad oder im Rahmen der Kryotherapie (Kältekammer) nicht nur Auswirkungen auf den Körper, sondern auch auf die mentale Gesundheit haben kann. Ihm selbst habe das Eisbaden vor einigen Jahren bei seiner klinischen Depression sehr geholfen. „Da ist zum einen die soziale Komponente und die Ablenkung von den eigenen Problemen, wenn man das regelmäßig mit anderen Menschen macht. Außerdem hast du danach das Gefühl: Ich habe die Herausforderung gemeistert.“ Und auch die Wissenschaft ist sich einig: Eisbaden kann stimmungsaufhellend wirken. In der richtigen Dosis regt Kälte die Produktion von Endorphinen, den sogenannten Glückshormonen, an. Des Weiteren aktiviert Kälte den Parasympathikus (Entspannung) und den Vagus-Nerv, umgangssprachlich auch Ruhe-Nerv genannt.

Nach weiteren zehn Minuten ziehen wir uns wieder an. Bevor wir uns verabschieden, wendet sich Michael noch einmal an mich. Ihm ist wichtig, dass ich erfahre: Beim Thema Eisbaden geht es um das große Ganze. Der Fitnesscoach sieht diese Praxis als eines von vielen Werkzeugen, um aus unserem bequemen modernen Alltag auszubrechen und weist mich auf das Konzept der Hormesis und den hormetischen Reizen hin. Er beschreibt, wie moderate Dosen von Stressoren (z.B. extreme Kälte) positive Anpassungsreaktionen im Körper hervorrufen. Obwohl diese Reize in großen Mengen schädlich wären, fördern sie in kontrollierten Dosen die Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit des Körpers, ähnlich der Superkompensation im Sport. Das Eisbaden aktiviert Stressreaktionen, die Hormone wie Noradrenalin freisetzen und die Resilienz steigern. In einer zunehmend komfortorientierten Gesellschaft dient es der Theorie zur Folge dazu, aus der Komfortzone der westlichen Welt herauszutreten, die körperliche und geistige Widerstandskraft zu stärken und wieder eine tiefere Verbindung zu unseren grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und zur Natur aufzubauen. Sich regelmäßig Kälte auszusetzen sei eine von vielen Möglichkeiten, sich gegen unnatürliche Stressreize, wie die ständige Erreichbarkeit in unserer modernen Welt, zu stärken. Wem der Sprung ins eisige Nass für den Anfang zu extrem ist, dem empfiehlt Michael, mit einer kalten Dusche oder Spaziergängen ohne Jacke im Winter zu starten. „Die Dosis macht das Gift.“

Wir verabschieden uns und ich steige in mein Auto. Ich spüre, dass ich zugegeben, neben kalten Fußzehen, mich stark und gleichzeitig sehr entspannt fühle. Der kurzzeitige punktuelle Stress scheint meinen Körper nicht überfordert, sondern tatsächlich eine positive Anpassungsreaktion hervorgerufen zu haben. Während mir heute Morgen und auf der Hinfahrt noch wahnsinnig viele Gedanken und Pläne durch Kopf schwirrten, hat das Eisbaden meinen Körper und Geist tatsächlich reguliert und zur Ruhe gebracht.

Was ich allerdings wahrnehme, ist, dass ich in den ersten Stunden nach dem Kältebad stärker friere als sonst.
– Nichts, was sich nicht mit einer warmen Tasse Tee beheben lässt. Auch im späteren Verlauf des Tages behalte ich meine Entspannung und Gelassenheit bei. Aber ich spüre noch etwas, eine neu gewonnene Freiheit. Ja, Eisbaden ist nicht angenehm, es kostet Überwindung. Doch nun hält mich der Winter nicht mehr davon ab, meiner Leidenschaft, dem Schwimmen in der Natur, nachzugehen. Meine Erkenntnis: Auch wenn die Umstände nicht ideal sind, sollte es einen nicht daran hindern, seinen Bedürfnissen und Wünschen zu folgen.

Kenne dich und deinen Körper

Der Trend des Eisbadens ist aus der Fitness- und Wellnessszene nicht mehr wegzudenken. Influencer und Gesundheitsexperten haben das Eisbaden populär gemacht und bewerben es mit zahlreichen positiven Effekten auf Körper und Geist. Potenzielle Risiken dürfen jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Besonders Menschen mit Vorerkrankungen oder diejenigen, die unvorbereitet in kaltes Wasser eintauchen, sollten vorsichtig sein. Wichtig ist, die Signale des Körpers deuten sowie sich und seine Grenzen richtig einschätzen zu können. Letztendlich sehe ich das Eisbaden als ein tolles Werkzeug, seinen Körper unmittelbar auf neue Weise zu spüren, aus der Bequemlichkeit des Alltags sowie aus unserer Komfortzone auszubrechen und mehr physische und psychische Widerstandskraft zu gewinnen. Probiert es doch auch mal aus, ihr habt nichts zu verlieren, außer vielleicht eure Fußzehen.

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