Herr Froese, was ist „Überfischung“, streng genommen?
Man spricht von Überfischung, wenn mehr Fische gefangen werden als nachwachsen. Der Fischbestand schrumpft dann, bis er so klein ist, dass er nur noch geringe Fänge liefern kann. Ein weiterer Schwellenwert ist die Bestandsgröße, unterhalb derer die erfolgreiche Fortpflanzung gefährdet ist. Das europäische Fischereimanagement hat unsere Bestände planmäßig knapp über dieser Grenze zum Zusammenbruch gehalten.
Was genau meinen Sie mit „Fischbestand“?
Als Fischbestand werden die Fische einer bestimmten Art in einem bestimmten Gebiet bezeichnet, wie etwa der Hering in der Nordsee. Die Fische pflanzen sich überwiegend innerhalb des Bestandes fort, haben also wenig genetischen Austausch mit benachbarten Beständen, wie etwa dem Hering in der westlichen Ostsee.
Und was kennzeichnet einen überfischten Bestand?
Ein überfischter Bestand besteht hauptsächlich aus kleinen Fischen, die nur noch einen Teil seiner natürlichen Fress- und Laichgebiete abdecken. Die Fortpflanzung ist gefährdet und der Bestand kann seine Rolle im Ökosystem nicht mehr wahrnehmen. Damit verändert sich auch das Ökosystem, vor allem, wenn man die größeren Raubfische herausnimmt. Dann wird die Nahrungspyramide von Top-Predatoren, also Räubern, zu Pflanzenfressern flacher, weniger divers, fragiler, weniger produktiv. Die Folge im Extremfall: Neue Arten wie etwa Quallen dominieren das Ökosystem. Die Fluktuationen sind insgesamt stark, wenig ist vorhersagbar. Für die Fischerei heißt das: geringe Erträge, hoher Aufwand und Kosten. Und kaum die Möglichkeit, selektive Fangmethoden einzusetzen, wie spezielle Netze oder Fischfallen. Man muss überall fischen, um überhaupt etwas zu bekommen – was die Krise verstärkt. Solche Fischereien können nur am Leben bleiben, wenn man Steuergelder hineinpumpt, wie in der EU.
Die Fischereibericht der Welternährungsbehörde FAO sieht das entspannter …
Die Methoden und Daten, die dem Bericht zugrundeliegen, kann man hinterfragen. Zusammen mit Daniel Pauly, einem der renomiertesten Fischereiforscher weltweit, habe ich mir das internationale Niveau einmal angeschaut. Und dabei stolperten wir über einen Satz im Weltfischereibericht 2010, der besagt, dass die globalen Fänge „stabil“ sind. Die Botschaft, die daraus hervorgeht: die Fänge sind nachhaltig, kein Grund zur Besorgnis. Das wollten wir nicht so stehen lassen, haben es untersucht. Und herausgefunden, dass es so nicht stimmt.
Wie sind Sie in ihrer Studie vorgegangen?
Wir haben zuerst einmal die vorliegenden chinesischen Zahlen herausgenommen, weil die sehr unsicher sind, aber einen großen Einfluss auf das Gesamtbild haben. Dabei haben wir festgestellt, dass die Fänge in den letzten Jahren geringfügig zurückgegangen sind. Man könnte aber sagen: Sie sind fast stabil. Aber wir müssen uns natürlich gleichzeitig die Zahlen zur Fischereiflotte vergegenwärtigen. Und da sehen wir, dass es bei Treibstoffverbrauch, Ausgaben für Fangtechnik und den Kosten insgesamt Anstiege gibt.
Was bedeutet das?
Der Aufwand ist enorm gestiegen, um dieselbe Menge oder etwas weniger zu fangen als früher. Der logische Schluss daraus: Es sind weniger Fische da.
Und wie stark schwinden die Bestände nach Ihren Erkenntnissen?
Die FAO untersucht etwa 400 Bestände weltweit, zu denen sie jedes Jahr Daten erhebt. Es gibt aber insgesamt über 2000 regionale Fischbestände, die die FAO zwar erfasst, aber nicht bewertet. Das haben wir nun getan, wenn auch mit einigen notwendigen Vereinfachungen. Boris Worm, ein namhafter Kollege aus Kanada, hat nach dieser Methode 2006 eine weltweite Prognose gewagt. Demnach werden bis 2048 alle Bestände kollabiert sein, wenn die gegenwärtigen Trends anhalten.
Was meinen Sie mit „kollabiert“?
Ein Kollaps liegt dann vor, wenn ein Bestand nur noch weniger als zehn Prozent seines früheren Maximalertrages liefert. Derzeit sind weltweit um die 24 Prozent der Bestände kollabiert, mit zunehmendem Trend. Das ist deutlich dramatischer als die Einschätzung der FAO. Nach ihr sind nur drei Prozent der 400 Bestände „erschöpft“. Der Zustand der Bestände ist also weitaus schlechter, als wir dachten. Das hat auch eine andere Studie vom September 2012 bestätigt, die nochmal eine andere Methode anwendet.
Das sind düstere Aussichten. Ist Besserung in Sicht?
Doch, natürlich. Die USA, Neuseeland und Australien haben die internationalen Abkommen umgesetzt, in denen sie sich zu einer nachhaltigen Fischerei verpflichtet haben. Mit erfolgreichen Reformen, die auf den höchstmöglichen Dauerertrag abzielen, auf Englisch maximum sustainable yield, kurz MSY.
Worum geht es bei MSY?
Biologen berechnen anhand verschiedenster Faktoren, wie etwa Altersverteilung und Vermehrungsraten, die Größe eines Bestandes, die auf lange Sicht hin den besten Ertrag abwirft. Als Faustregel für den maximalen Dauerertrag gilt für viele unserer Bestände, dass man im Jahr höchstens 20 Prozent der Fische wegfangen darf. Tatsächlich hat das europäische Fischereimanagement in den vergangenen Jahren 50-80 Prozent Entnahme vorgeschrieben.
Mit welchen Folgen?
Wir haben nach unseren Berechnungen etwa 32 Prozent kollabierter Bestände, also mehr als im weltweiten Durchschnitt. Und das, obwohl sich die EU-Staaten zur nachhaltigen Fischerei mit dem Ziel des maximalen Dauerertrages verpflichtet haben. Zuletzt im Juni 2012 beim Rio+20-Gipfel in Brasilien. Der war für die Fischerei eine gute Sache. Denn die Sprache in Rio war sehr klar: Wir müssen bis 2015 die Bestände nach MSY-Niveau aufbauen. Und wenn nötig, müssen Fischereien geschlossen werden.
Was hieße das für die EU?
Man könnte in dieser Zeit 50 bis 70 Prozent der EU-Bestände auf den maximalen Dauerertrag bringen. Dafür müsste man allerdings vorübergehend einige Fischereien schließen. Doch schon 2016 hätten wir die gleichen Fangmengen wie jetzt, danach würden sie weiter ansteigen. Das setzt aber einen politischen Willen voraus, der derzeit bei den EU-Staaten nicht zu erkennen ist. Die guten Reformvorschläge der EU-Kommission sind von den Landwirtschaftsministern verwässert worden. Jetzt steht eine Einigung des Ministerrats mit dem Parlament bevor. Dieser Prozess kann noch lange dauern, der Ausgang ist ungewiss.
Interview: Torsten Schäfer
Der Beitrag erschien bereits auf GEO.de