Martin Führ: „Ich bin schockiert, wie risikoblind die Autoindustrie war“

Herr Führ, ist es überhaupt möglich, in unserer Konsumgesellschaft wirklich nachhaltig zu leben?

Man kann nie nachhaltig leben. Das geht gar nicht. Aus meiner Sicht gibt es nur mehr oder weniger nachhaltig. Deswegen lehne ich den Begriff „nachhaltig“ oder „Nachhaltigkeit“ ab. Nachhaltigkeit suggeriert, dass wir irgendwann in einen Zustand kommen, wo alle Kriterien erfüllt sind. Und das sehe ich auf absehbare Zeit nicht. Deswegen sprechen wir auch in der Forschung immer nur von „Nachhaltiger Entwicklung“ (NE).

Was verstehen Sie genau darunter?

Nachhaltige Entwicklung ist ein Veränderungsprozess, der dafür sorgt, dass sowohl die einzelnen Bürger als auch die Unternehmen und alle anderen Akteure in der Gesellschaft ihr Verhalten so ausrichten, dass die Erde für eine unendliche Anzahl von Generationen bewohnbar bleibt – und alle eine faire Chance haben, auf dieser Erde ihr Glück zu suchen. Je mehr wir zögern, desto stärker müssen die Veränderungen sein.

Warum ist das Thema Nachhaltige Entwicklung so wichtig?

Weil wir nur diese eine Erde haben. Punkt. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Wir haben eine ganze Menge Fehler gemacht, indem wir uns etwa auf bestimmte Pfade der Mobilität festgelegt haben. Jetzt ist es sehr schwer, Alternativen zu finden, weil sehr viele vom alten System profitieren. Zum Beispiel die ganze Automobilindustrie, die Fahrschulen, die Werkstätten und natürlich auch die Bürger in ihrer eigenen Bequemlichkeit.

Welche Rolle spielt die Nachhaltige Entwicklung in Ihrer Lehre- und Forschung?

Ich unterrichte überwiegend im Umwelt- und Technikrecht. Da ist Nachhaltige Entwicklung quasi in jeder Lehrveranstaltung ein Thema. Für den angehenden Ingenieur bedeutet das zum Beispiel, Motoren effizient zu konstruieren oder sich die Frage zu stellen: „Brauchen wir überhaupt Motoren? Gibt es nicht vielleicht klügere Lösungen, als nur weiter am Verbrennungsmotor herumzuschrauben?“

Sie lehren Ihre Studenten auch das Abschätzen von Risiken und Chancen. Inwiefern ist das relevant bei der Nachhaltigkeitsdebatte?

Wenn wir in unserer Gesellschaft eine Nachhaltigere Entwicklung erreichen wollen, müssen wir Veränderungen anzetteln. Die sind zwangsläufig mit Ungewissheiten verbunden. Man muss sich also überlegen, welche erwünschten und unerwünschten Folgen durch solche Veränderungen ausgelöst werden können. Daher auch der Masterstudiengang RASUM: Risk Assessment and Sustainability Management. Dieser hat nicht nur technische, sondern auch sozialwissenschaftliche, politikwissenschaftliche und juristische Anteile. Hier sollen Akteure ganzheitlich ausgebildet werden, um als sogenannte „Change Agents“ bewusste Veränderungsprozesse voranzubringen.

Sie sind auch Sachverständiger des Deutschen Bundestags zum Thema Abgasskandal – inwiefern hat dieser Skandal Ihr Bild von der Nachhaltigkeit verändert?

Ich war schockiert, wie man so risikoblind sein kann wie die Autoindustrie. Die Autos waren theoretisch sauber, allerdings nur auf dem Prüfstand. Sobald sie vom Prüfstand runterkommen, stoßen sie das 15- bis 65-fache der Schadstoffe aus. Das ganze System war schon so angelegt wie in der US-Armee: „Don’t ask, don’t tell“. Keiner wollte genauer hinschauen: Der Bundesverkehrsminister nicht, das Kraftfahrt-Bundesamt nicht und die Europäische Kommission auch nicht. Das heißt in der Konsequenz: Wir verfehlen die Klimaschutzziele massiv und stoßen immer noch Schadstoffe aus, die – wenn man es ganz hart sagen will – tödlich sind. Dass man dachte, das würde unentdeckt bleiben – so blind muss man erst mal sein. Es ist schon erschreckend, dass für VW und die anderen Konzerne offenbar allein der kurzfristige Erfolg zählte. Sie haben den Bestand des kompletten Unternehmens aufs Spiel gesetzt. Einfach so.

Was würden Sie denn Ihren Studenten raten, wenn es nun an ihnen läge, das Vertrauen zur Automobilindustrie zurückzugewinnen.

Die Studenten müssen sich Geschäftsmodelle ausdenken, die auch in fünf oder zehn Jahren unter den Bedingungen Nachhaltiger Entwicklung noch tragfähig sind. Oft müssen dafür bisherige Systemgrenzen überschritten werden. Das bedeutet zum Beispiel, sich nicht nur Pkw anzuschauen, sondern ein ganzes Mobilitätssystem.

Für wie nachhaltig halten Sie die Hochschule Darmstadt?

Sehr entwicklungsfähig (lacht). Wir haben tolle Studiengänge. Energiewirtschaft zum Beispiel, der schon 1990 gegründet wurde, um die Energiewende voranzubringen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Fukushima den Schalter umlegte, konnte sie das nur, weil schon so viele vorgearbeitet hatten, darunter auch eine ganze Reihe unserer Absolventen. Die Hochschule hat allerdings noch genug zu tun. Angefangen bei den Gebäuden. Die sind eine Katastrophe – energetisch gesehen. Leider sind die Hemmnisse zu groß und die Anreize zu gering, um zu sanieren, obwohl es sich rechnen würde.

Immerhin gibt es jetzt ja die „Initiative: Nachhaltige Entwicklung in der h_da“, kurz: I:NE“. Engagierte Hochschulangehörige haben sich hier zusammengetan, um in Lehre, Forschung und Betrieb weitere Schritte in Richtung Nachhaltiger Entwicklung voranzutreiben. Besonders erfreulich: Die aktive Mitwirkung der Studierenden bringt viel Schwung in die Sache. Sie entwickeln eigene Ideen und gestalten etwa die jeweils im Wintersemester angebotene Ringvorlesung maßgeblich mit.

Wie sehen Sie den öffentlichen Diskurs zum Thema Nachhaltigkeit? Kommt das Thema in der Öffentlichkeit zu kurz?

Die Medien sind durchaus wichtig. Es gibt, zumindest bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, ein großes Angebot und auch beeindruckend gut recherchierte Dokumentationen. Ich vermute, dass man solche Themen selbst in der BILD-Zeitung wiederfinden würde. Vielleicht mit einer anderen Schwerpunktsetzung, aber das zeigt, dass auch solche Themen voll im Mainstream angekommen sind. In den letzten 40 Jahren hat sich ein unglaublicher Bewusstseinswandel in der Gesellschaft vollzogen, an dem die Medien maßgeblich beteiligt waren. Allerdings brauchen die Medien jemanden, der ihnen das Material liefert. Ganz viele dieser Themen wurden von unabhängigen Wissenschaftlern angestoßen. Das ist auch notwendig, weil die Veränderungen, die vor uns liegen, so grundlegend sind.

Und wie gewinnt man Menschen, die sich für Nachhaltige Entwicklung nicht interessieren?

Indem man positive Botschaften sendet. Sowohl im privaten als auch natürlich in der Wirtschaft haben wir es mit homines oeconomici zu tun – also mit Leuten, die auf ihren eigenen Nutzen schauen. Wenn man Leute zur Veränderung gewinnen will, muss man die positiven Seiten aufzeigen. Zum Beispiel gibt es durchaus positive Anreize, auf das Auto zu verzichten. Ich sehe das so: Wenn ich mit dem Fahrrad fahre, dann bewege ich mich in frischer Luft und mache eine aktive Prophylaxe gegen Herzinfarkt und Schlaganfall.

Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

Die Idee, dass wir uns einen zweiten Planeten stricken, halte ich für unrealistisch. Wir können daher nur versuchen, den Schaden, den wir an dem Planeten anrichten, so gering wie möglich zu halten. Die Menschen sollten offener für Veränderungen sein, im Privaten wie auch in Unternehmen. Sie sollten nicht am Status Quo festhalten und nicht so viel Angst vor Veränderungen haben.

Interview: Tobias Walter und Freya Helmstätter

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