Von Torsten Schäfer, Lena Kasper und Felix Austen
Ausgangspunkt für unsere Arbeitsthese vom Wertewandel im Zeitschriftenregal war das Seminar „Themenentwicklung“ an der Hochschule Darmstadt, das im Masterstudiengang „Medienentwicklung“ im ersten und zweiten Semester angeboten wird. In dieser Veranstaltung lernen Studierende, neue Zielgruppen und Medienthemen zusammenzudenken, zu analysieren und mit ersten eigenen Konzepten einzukreisen. Thema im ersten Semester ist die nachhaltige Entwicklung.
Diesen Themenkosmos gut zu kennen, ist für angehende Redaktionsplaner, Medienforscher und PR-Experten wichtig, da grüne Inhalte seit Jahren en vogue sind. Im zweiten Semester ist die Logik der Vorgehensweise eine andere: Anstatt ein Thema vorzugeben, erarbeiten sich die Studierenden die Trends selbst, in dem sie zwölf aktuelle Konsum-, Markt- und Gesellschaftsstudien lesen und zusammenfassen.
Grundlage dafür waren Studien wie die Shell Jugendstudie, die Analyse Lebensentwürfe heute des Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, der How’s Life?-Bericht der OECD oder Klassiker der Markt- und Konsumforschung wie etwa die Otto-Trendstudie Lebensqualität und Consumers‘ Choice der Gesellschaft für Konsumforschung und der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie. Komplettiert wurde die Reihe durch Arbeiten wie etwa Sicher leben statt viel haben – das veränderte Wohlstandsdenken von IPSOS und Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben des Zukunftsforschers Horst Opaschowski.
Welche neuen Themen beschäftigen die Gesellschaft?
Im Sommersemester 2014 bildeten wir daraus eine Synthese und fragten danach, welche neuen Themen die Gesellschaft – und damit Leser, User, Zuseher und Hörer – künftig beschäftigen werden und jetzt schon umtreiben. Die Motive der Veränderung wurden auf einem Blatt zusammen gefasst, das den Seminarteilnehmenden bei einer Aktionsforschung am Kiosk des Darmstädter Hauptbahnhofs ausgehändigt wurde.
Das Ziel war die Beantwortung der Frage, ob die Motive des Wandels auch im Zeitschriftenmarkt angekommen sind. Das war die Leitfrage des Seminars, an dessen Ende nun die erste Beschreibung des Magazinsegments „Sinn + Muße“ steht. Echte Forschung dazu wäre der übernächste Schritt. Jetzt geht es erst einmal um Arbeitsthese, Abgrenzungen und passende Begriffe.
Natürlich gab es Anlass zur Vermutung, dass die Gruppe am Kiosk einiges finden würde, da einige Neugründungen wie etwa die ganze Land-Gruppe oder auch explizite Sinnmagazin wie Flow und Slow schon öfter Thema in den Darmstädter Masterkursen waren. Hinzu kommen immer neue Bücher, die auf den Einstellungs- und Wertwandel hinweisen, der in der Wissenschaft Konturen bekommt.
Kennzeichen des Wandelprozesses
Wachstumskritik, Beschleunigungsskepsis, Zeitwohlstand, nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweisen sowie das zunehmende Hinterfragen von Systemdogmen wie Utilitarismus, Pragmatismus und Positivismus sind Kennzeichen dieses Wandelprozesses. Beispielhaft genannt für relevante Werke in diesem Feld seien Die heimlichen Revolutionäre des Soziologen Klaus Hurrelmann, Beschleunigung und Entfremdung des Zeitforschers Harmut Rosa oder Die erschöpfte Gesellschaft des Psychologen Stephan Grünewald.
Was die Studierenden dann alles in den Regalen entdeckten und in Nachrecherchen online noch fanden, war eine Überraschung, wenngleich der Analysefokus ein weiter war und der Zugriff spontan und subjektiv erfolgte: Die Studierenden wurden auf den gesamten Kiosk verteilt. Jeder hatte hatte ein Regal vor sich, sodass eine komplette Kiosk-Analyse möglich war. Die Gruppe durchforstete die Regale und nahm spontan Hefte heraus, deren Cover intuitiv mindestens drei der folgenden Wandelmotive in sich tragen.
Wandelmotive und Beschreibungen
(Nach späterer Analyse würde sich eine Erweiterung um die Motive „Selbstversorgung“ und „Teilen“ anbieten, da diese auch stark in den Magazinen auftauchen. Die Selektion fand aber mit den acht genannten Motiven statt. Bei einem nächsten Test würden wir zehn Motive anwenden.)
Naturnähe |
Umwelt, Natur und Nachhaltigkeit sind Themen dieses Motivs. Auch der Drang nach Ursprünglichkeit und Originalität spielt eine Rolle, der sich in Heimatmustern sowie einer Hinwendung zu visuell schönen und oft kleinteiligen Themen im Nahraum ausdrücken kann. |
Ethischer Konsum |
Nachhaltige Produkte, Fair-trade-Angebote und Waren sowie Dienstleistungen mit anderen sozialen und ökologischen Standards (dann auch Logos, Zertifikaten und Labeln) sind für verschiedenste Verbrauchergruppen zunehmend interessant. |
Lokalität |
Dieses Motiv steht oft in direkter Verbindung mit anderen. Der Drang, verstärkt vor Ort selbst aktiv zu werden, zeigt sich in ganz unterschiedlicher Weise und findet in oft diskutierten Konzepten wie Dezentraliät oder lokaler Selbstversorgung seine Bestätigung. In diesem Motiv steckt aber auch stark der Rückbezug auf Heimat, Tradition und kleinteilige Welten. |
Gemeinschaft |
Kooperation und Kommunikation gehören zum Wandelmotiv der Gemeinschaft. Die Orte dafür sind neben sozialen Netzwerken ganz real: Kleiderbörsen, Gemeinschaftsgärten, Repaircafés oder Flash Mobs. Hinzu kommt der erkennbare Wunsch nach stärkerer gesellschaftlicher Teilhabe und Mitbestimmung. |
Zeitwohlstand |
Entschleunigung, Muße, Zeithoheit, Stressabbau – dieses Motiv hat verschiedene Namen. Im Zentrum steht die oft persönlich empfundene und wissenschaftlich immer öfter beschriebene Notwendigkeit nach einer Verlangsamung von Arbeit und Leben. |
Gesundheit |
Auch dieses Motiv geht oft eine direkte Verbindung ein mit anderen Wandelpunkten, etwa Naturnähe oder Zeitwohlstand. Es hat einen individuellen und nutzwertigen Charakter und wird im Medienmarkt bereits vielfach bespielt. |
Sinnstiftung |
Den Sinn des eigenen Handelns benennen, der Arbeit eine größere Bedeutung als nur die materielle zuschreiben, Tiefe und langfristige, auch soziale Wirkung entfalten – diese Ziele verbinden sich im Sinnmotiv, das Medien bereits stark bedienen. |
Selbstwirksamkeit |
Dieses Motiv ist Produkt des gesuchten Zeitwohlstandes, des Gesundheitsdrangs und der Sinnsuche. Es bedeutet (aus der Psychotherapie stammend), die Folgen des eigenen Handelns unmittelbar erfassen, d.h. auch sehen und anfassen, zu können. Wandern, Do-it-yourself, Kochen, Stricken, Basteln – all diese körperlichen bzw. haptischen Bedürfnisse sind Ausdruck dieses Wandlungsmotivs |
Nach zwei Stunden türmte sich ein riesiger Magazinberg auf, der dann in mehreren Stufen nochmals verkleinert wurde: vor Ort durch den Dozenten in Rücksprache mit der Gruppe, erneut im Seminar gemeinsam, zusammen mit Kollegen und dann nochmals mit den beiden Mitarbeiten des Medienportals Grüner Journalismus. So konnte die subjektive und auch nur auf eine Heftausgabe ausgerichtete Auswahl zumindest ein Stück weit ein- und auch zu bestehenden Zeitschriftensegmenten abgegrenzt werden.
Herausgekommen ist die erste Struktur eines derzeit rund 70 Titel starken Zeitschriftensegments „Sinn + Muße“, von dem z.B. auch der Magazinmacher Thomas Friemel (Grüner von enorm) spricht und das zunehmend in Medien besprochen wird. Ein Beispiel dafür ist der Aufmacher des ZEIT-Magazins von Julia Friedrichs zum neuen Bedürfnis nach Rückzug in der Schlussausgabe 2014 – wenngleich in diesem Thesenreport die Hälfte des Wandels, nämlich seine progressive, politische und experimentelle Seite in Richtung Autonomie, Nachhaltigkeit und Mitbestimmung, vergessen geht.
Das Segment ist nicht ganz neu, da es in bestehende Magazinsparten wie Garten, Wohnen, Reise, Wissen, Ernährung oder Frauenmagazine einfällt und sich mit diesem verbindet. In diesen klassischen Feldern, die am Kiosk eigene Regalreihen bilden, fassen die genannten Wandelmotive Fuß, nur nicht in so einer großen Dichte, so die These. Womöglich hängt direkt damit zusammen, dass in diesen bestehenden Sparten weniger stark Neugründungen auffallen, mit denen Thementrends besetzt werden, sondern stattdessen das Aufgreifen von neuen Inhalten auf zwei anderen Ebenen erfolgt: der schlichten Integration von Beiträgen mit neuen Themen in das Produkt (Trend auf Beitragsebene) sowie der Entwicklung neuer Rubriken, Serien, Sonderseiten und Beilagen (Trend auf Formatebene).
Neugründungen als Trend
Neugründungen als Trend auf der Produktebene sind das elementare Kennzeichen des Segments „Sinn + Muße“. Dabei sind zwei große Richtungen erkennbar: Motivbündel, die auf Nachhaltigkeit als Subtext des Titels hinweisen (v.a. Untergruppen „Andere Gesellschaft“, „Umwelt und Natur“, „Grüne Ernährung“) und solche, die auf die Hinwendung und Rückbesinnung zu schönen Kleinräumen hinweisen, in denen selbstwirksamen Aktivitäten möglich sind (v.a. Untergruppen „Land + Heimat“ sowie „Besseres Ich“).
Lakonisch gesprochen gibt es innerhalb des Segments einen Bereich des Futurs, des Voranwollens, und einen der Flucht, des Rückzugs, Wellness und Zurückbesinnens. Das Gründungsjahr legen wir mit dem Start der Landlust 2005 fest; die Landgruppe ist die stärkste und einheitlichste Kategorie innerhalb des ganzen Segments. Mit ihr sowie der Kategorie „Umwelt und Natur“ sind zwei der vorgeschlagenen Untergruppen bereits in manchen Zeitschriftenregalen zu finden, wie Besuche der Verkaufsstellen an den Hauptbahnhöfen Frankfurt/Main, Berlin, Hamburg und Darmstadt zeigen.
Wir nehmen sie dennoch aufgrund ihrer Motivlastigkeit mit auf. Explizite Neubenennungen sind daher die Untergruppen „Grüne Ernährung“, „Besseres Ich“ und „andere Gesellschaft“, das als Untergruppe am stärksten die Inhalte einer nachhaltigen Entwicklung in sich trägt, die an Umwelt- sowie Lebensqualität orientiert ist nach dem Pyramidenmodell bei Grüner-Journalismus.
Zeitschriftensegment „Sinn + Muße“
Geschätzte Intensität der Neugründungen seit 2005 von + (wenige) bis ++++ (sehr viele)
- Land +, Heimat ++++
- Besseres Ich (Inspiration, Selbstmachen, Wohlfühlen) ++
- Andere Gesellschaft (Politik, Philosophie, Wirtschaft) ++
- Grüne Ernährung ++
- Umwelt + Natur +
„Sinn und Muße“- Produktaufstellungen
- Land + Heimat: Landlust, Landleben, Landzauber, Landidee, Liebes Land, daheim in Deutschland, LandSpiegel, mein schönes Land, Landfrau, Landpartie, Land + Berge, Landgarten, Servus, Landkind, Heimatküche, Leckere Heimat, meine gute Landküche, Landgenuss, Bauernküche, Einfach hausgemacht, Mutti kocht am besten, Landhaus, Landluft (versch. Regionen), Landgang (Schleswig-Holstein), Seenland (Mecklenburg-Vorpommern, Bremen), Alblust, Muh 13 (Bayern)
- Besseres Ich (Inspiration, Spiritualität, Wohlfühlen): Flow, Slow, Happinez, Sinn Magazin, Herzstück, Werde, Pure Soul, Der Flaneur, Bewusster Leben, Auszeit, Sensa
- Andere Gesellschaft (Politik, Philosophie, Wirtschaft): Enorm, Factory, Oya, Start, Forum Nachhaltig Wirtschaften, Pure, Philosophie Magazin, Agora 42, Hohe Luft, Humane Wirtschaft, Froh Magazin, Movum, zeo2
- Grüne Ernährung: Bio Life, Grünes Leben, Kraut & Rüben, Schrot + Korn, Natürlich leben, Vital, Good Health, Vegan-Magazin, Slowly Veggie, Veggie, Vegetarisch, Natürlich Vegetarisch, Slow Food Magazin, Kochen ohne Knochen
- Umwelt + Natur : Wald Magazin, Warum (Naturmagazin für schlaue Eltern), Terra Mater, Outdoor Family, The Weekender
Einschränkungen
Zu berücksichtigen ist, dass diese Struktur ein Abbild des Angebots im Jahr 2014 ist. Einige Hefte, die hierher gehören, sind schon wieder vom Markt verschwunden, gleichzeitig sind neue dazu gekommen. Einen vollständigen Überblick mit Auflagen, Besitzverhältnissen, Organisationsformen und medienökonomischen Konzepten könnte könnte zum Beispiel ein Forschungsprojekt mit mehreren Mitarbeitern erfassen. Womöglich kann diese hier dargelegte, kursorisch angelegte und aus der Lehre heraus entwickelte Analyse einen ersten Anstoß dafür liefern.
Ein Hindernis für das Segment und insbesondere die dazu gehörenden Neugründungen ist immer noch die Wirtschaftlichkeit, auch dies muss im Hinblick auf einen vollständigen Kontext betont werden. Einige der Magazine sind allein durch Überstunden, Freizeitarbeit und Ehrenamtliche möglich, da sie mit sehr kleinen Teams und wenig Grundfinanzierung operieren. Andererseits operieren sie in einem Trendumfeld mit hoher Kreativität und geringen Zugangskosten, was für medienökonomische Analysen interessant sein könnte. Auch, weil wir es mit grundlegend unterschiedlichen Finanzierungsmodellen zu tun haben, deren nähere Betrachtung sicher lohnt. Wir haben in das Segment z.B. ebenfalls journalismusähnliche Hefte aus dem Coportate Publishing wie etwa „Werde „oder „Schrot und Korn“ aufgenommen.
Spannend wäre nun vor diesen Hintergründen eine jährliche Bestandsaufnahme, um Veränderungen nachvollziehen zu können: Welche Magazine konnten sich durchsetzen, welche nicht? Die Landgruppe ist die größte Überraschung der letzten zehn Jahre; ob noch andere dazu kommen? Für die Beantwortung der Frage ist es gut, einen Begriff und eine ungefähre Vorstellung dieses Magazintrends zu haben. Es gibt aber noch mehr Gründe, ihn erstmals zu beschreiben:
Vom Nutzen der Übung
Was bringt nun diese Übung und die These vom neuen Segment „Sinn + Muße“? Es sind mindestens vier Zwecke auszumachen:
- Erstens können Magazinmacher mit einem eigenen Begriff den offenkundigen Medientrend besser beschreiben und darauf aufbauend eigene Strategien entwickeln. Unter der Hand sprechen Verlagsexperten auch schon selbst davon, dass es eigentlich ein neues Regal geben müsste. Nur ist noch kein Titel dafür geschaffen worden.
- Der Begriff und die vorgeschlagene Struktur sollen zusammen als These die bisher dürftige interdisziplinäre Forschung (Kommunikationswissenschaft und Soziologie, Psychologie) zum Einstellungs- und Wertewandel im medialen Spiegel stimulieren. Selbst die Initialzündung Landlust hat bisher nur wenige Forschungsarbeiten auf sich gezogen.
- Studierende lernen bei dieser Lehrform, den Markt direkt kennen und ihn mit der Leserrealität, d.h. mit Studien aus anderen Disziplinen als nur der Kommunikationswissenschaft, direkt in Verbindung zu bringen. Letztlich wird deutlich, dass ein Medienmacher ohne Kenntnisse gesellschaftlicher Trends und Analysen kaum stimmige Zukunftskonzepte entwickeln kann.
- Ferner wird durch diese Strukturierung und die Anbindung an die vorgeschlagenen Wandelmotive klar, dass es um einen deutlich größeren Trend als nur den nach Heimat und Landliebe geht. Es geht um einen breiten, gesellschaftlichen, teils dissonanten und ungeordneten Einstellungs- und Wertewandel, der sich aktuell stark am Medienmarkt niederschlägt – trotz und wegen der oft, und teils zu stark, besungenen Medienkrise, die offenbar auch viel Gründergeist und Kreativität freisetzt.
Dieser Beitrag erschien bereits auf Fachjournalist.de.