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„Wir sind nicht im Club der Europäier:innen“ – Ein Interview mit Melina Borčak

 

BU zum Porträtbild: Melina Borčak ist Journalistin und Filmemacherin mit Schwerpunkt auf (anti-muslimischen) Rassismus, Genozid und Medienkritik. Sie hat ein Journalismus-Studium in Sarajevo und ihren Master in Medienwissenschaft in Berlin abgeschlossen. Melina arbeitet u.a. für CNN, Deutsche Welle und ARD.
Melina Borčak ist Journalistin und Filmemacherin mit Schwerpunkt auf (anti-muslimischen) Rassismus, Genozid und Medienkritik. Sie hat ein Journalismus-Studium in Sarajevo und ihren Master in Medienwissenschaft in Berlin abgeschlossen. Melina arbeitet u.a. für CNN, Deutsche Welle und ARD.

Interview: Melis Ntente

Melina, fühlst du dich als Bosniakin europäisch?

Das ist für mich eine zwiespältige Frage, bei der ich immer hart nachdenken muss. Denn ich weiß, dass Bosniak:innen von vielen Teilen Europas nicht als Europäer:innen anerkannt werden. Das ist, als man uns vier Jahre lang sterben ließ, klar geworden. Und wenn in Bezug auf die Ukraine gesagt wird, es herrsche der erste Krieg in Europa seit 70 Jahren – da fühlt man sich natürlich nicht als „Teil des Clubs“.

Der Journalist Cyrill Stieger sagt in seinem Buch „Wir wissen nicht mehr, wer wir sind”, dass europäische Muslim:innen als „lästiges Überbleibsel aus der Zeit der verhassten, türkischen Fremdherrschaft“ und „Verräter“ gesehen werden. Stimmst du dem zu?

Ja. Man sieht es ja daran, dass aus Bulgarien in den 1980er und 90er hunderttausende muslimische Menschen vertrieben worden sind: Ethnisch türkische Menschen, Pomak:innen und muslimische Rom:nja. Das wurde fast vergessen. Es gibt Videos, die zeigen, wie General Mladić in Srebrenica einmarschiert und sagt, heute sei „endlich der Tag für die Rache an den Türken“ gekommen. Bosniak:innen haben außer dem Muslimischsein nichts mit Türk:innen gemeinsam. Sie wurden von Serb:innen auch als Verräter:innen bezeichnet. Auch Rechtsextreme weltweit empfinden uns als Last. Die Manifeste von u.a. Christchurch, München und El Paso beziehen sich auf den Genozid. Nicht, weil sie serbischen Nationalismus an sich unterstützen, sondern weil sie ihn als Teil des großen „Christian und White Supremacy“-Projekt sehen.

„Sie wollen, dass Bosnien unter Putins Stiefel erstickt“

Hast du das Gefühl, dass der Balkan auch gemeint ist, wenn man über Europa spricht?

Der „Balkan“ ist wie der „Orient“ ein imaginäres Konzept. Je nach Definition sind das elf Länder, die nichts miteinander zu tun haben. Das sind unterschiedliche Ethnien mit verschiedenen Sprachen und Religionen. Slowenien, Kroatien und Griechenland gehören sehr wohl zu Europa. Aber wenn wir über Bosnien, Kosovo und Albanien reden, da wird einem direkt ins Gesicht gesagt: „Naja, ihr seid ja nicht wirklich Europa.“

Beim Gipfeltreffen in Thessaloniki macht Bundeskanzler Scholz Mitte Juni den Westbalkanstaaten Hoffnung auf den langersehnten EU-Beitritt. Wie realistisch siehst du das?

Nordmazedonien und Albanien haben gute Chancen – wenn Albanien für ihre muslimische Mehrheit nicht von Orbán und anderen Rassist:innen geblockt wird. Das wäre ein Weltwunder. Bei Bosnien wird das noch ein sehr langer Weg werden, weil serbische und kroatische Nationalist:innen gegen jeden Verbesserungsvorschlag ein Veto legen, z.B. gegen das Erasmus+ Austauschprogramm. Sie wollen, dass Bosnien unter Putins Stiefel erstickt und sich nicht der EU annähert. Wir haben nur um den Genozid zu beenden einen sehr schlimmen Friedensvertrag unterschreiben müssen, wo die Macht im Land zwischen Bosniak:innen, Serb:innen und Kroat:innen aufgeteilt wird. Momentan können alle, die nicht Teil einer dieser drei Gruppen sind, nicht als Präsident:in oder in die Volkskammer gewählt werden. Sie sind in der Verfassung offiziell als „der Rest“ aufgeführt, der viele Rechte nicht hat. Das wollen wir natürlich ändern. Solange das nicht erlaubt ist, können wir nicht in die EU.

Zweites Bild: Vertriebene Bosniak:innen, die mit dem Bus ankommen, um zu wählen. Bosnien und Herzegowina, 1996 / Quelle: Europäische Kommission
Vertriebene Bosniak:innen, die mit dem Bus ankommen, um zu wählen. Bosnien und Herzegowina, 1996 / Quelle: Europäische Kommission

Melina, du bist während des Bosnienkrieges nach Deutschland geflohen. Aktuell siehst Du eine Diskrepanz zwischen der Behandlung von Geflüchteten aus der Ukraine und aus Bosnien. Was beobachtest du?

Es gibt die große Bereitschaft, Menschen aus der Ukraine aufzunehmen – im Gegensatz damals zu Menschen aus Bosnien, das ist meine Erfahrung. Wir mussten illegal über die Niederlande nach Deutschland. Damals gab es eine enorme Hasskampagne deutscher Medien gegen Flüchtlinge. Die Antwort des deutschen Staates auf viele geflüchtete Bosniak:innen war es, das Asylgesetz zu verschärfen. Heutzutage kann man an jedem Bahnhof ukrainische Flaggen und Menschen sehen, die helfen. Es wird anerkannt, dass es sich um einen Angriffskrieg handelt und Menschen gezwungen sind, sich zu verteidigen. Bosnien war ein international anerkanntes unabhängiges Land und UN-Mitglied, das von einem anderen Land angegriffen wurde. Erst sagen deutschen Medien, der damalige serbische Präsident Milošević ist schuld, aber in der zweiten Hälfte des Satzes sprechen sie fälschlicherweise vom Bürgerkrieg.

„Stell dir vor, man hat nichts und wird angegriffen“

Wie sah die militärische Unterstützung aus?

Es gab ein Waffenembargo. Wir bekamen keine Waffen und durften sie selbst auch nicht kaufen. Das war grauenvoll, denn Bosnien hatte zu der Zeit noch keine Armee. Stell dir vor, man hat nichts und wird von der viertgrößten Wehrmacht Europas angegriffen. Clinton hatte von europäischen Politiker:innen gefordert, das Embargo aufzuheben. Der damalige französische Präsident Mitterrand tat das nicht, weil „ein muslimischer Staat in Europa unnatürlich wäre“, wie er sagte.

Ein CBS-Reporter beschreibt die Ukraine im Gegensatz zum Irak als zivilisiertes Land. Ukrainer:innen bekämen mehr Mitgefühl, weil sie „wie wir aussehen“. Doch auch Bosniak:innen können blond und blauäugig sein und sind europäisch.

Das Muslimischsein nimmt all diese Privilegien quasi weg. Natürlich ist Weiß-Sein oder ein falsches dafür Gehaltenwerden ein Vorteil im Rest der Welt. Aber in dem Fall war es sogar negativ, dass wir weiße, europäische Muslim:innen sind. Denn wir wurden als Fehler, als ein unberechtigter Auswuchs gesehen, den man schnell stoppen muss. Da kann man so blond sein, wie man möchte. Das bedeutet nichts, wenn man Muhammed heißt.

Meistens werden „europäisch“ und „muslimisch“ als Gegensätze beschrieben. Ist das gefährlich?

In erster Linie finde ich es peinlich, weil der Islam immer ein Teil von Europa war. Nicht nur das Osmanische Reich, sondern auch Sizilien, die iberische Halbinsel und Andalusien. Man muss verstehen, dass muslimische Menschen untrennbar von Europa sind – u.a. indigene Völker wie die Krimtartar:innen und Tscherkess:innen. Es wird vergessen, was für eine riesige Rolle Islam in Europa spielte und immer noch spielt.

„Muslim:innen sehen auch wie ich aus“

Welche Rolle spielen die Medien für Dich, wie siehst Du die europäischen Berichterstattung über Muslim:innen?

Ich sehe es so, dass wir als etwas von außerhalb gesehen werden. Selbst wenn akzeptiert wird, dass europäische Muslim:innen existieren, denkt man zuerst an Nachfahren von Migrant:innen aus nicht-europäischen Ländern. Außerdem sind wir keine monolithische Masse, bei der man alles über einen Kamm scheren kann. Es handelt sich um verschiedene Bevölkerungsgruppen. Unter diesen Völkern sind natürlich nicht alle Menschen gleich. Bei der Bebilderung sind fast immer Männer beim Beten oder Frauen mit dem Kopftuch von hinten zu sehen. Muslim:innen sehen auch wie ich aus. Deutsche Journalist:innen wählen als Gesprächspartner:in den Zentralrat der Muslime oder eine Moschee aus. Das verzerrt natürlich die Wahrnehmung. Das ist wie, wenn ich mit Deutschen reden möchte und irgendein Heimatverein anrufen würde, der mir dann etwas über Trachten erzählt.

Anfang März stellte die Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarates Schritte gegen anti-muslimischen Rassismus vor. Darunter fallen Punkte wie besser über die Geschichte des Islams in Europa aufklären. Wird das helfen?

Ja, bei richtiger Umsetzung. Ich habe da aber meine Zweifel. Am Ende sind das Projektgelder, die an irgendwelche NGOs oder staatliche Agenturen gehen, in denen die Leute dann nichts damit zu anfangen wissen. Am Ende wird dann nur etwas über Spanien, Einwanderung und Gastarbeiter:innen erzählt.

Wie kann man anti-muslimischen Rassismus bekämpfen?

Wir müssten beim Schlimmsten anfangen und uns runter arbeiten. Jetzt wird ganz viel über unsere Wortwahl diskutiert, und wie wir Frauen mit Hijab auf Werbungen darstellen. Die Sachen sind zwar auch wichtig, aber man sollte erstmal fragen: Wo wird muslimisches Leben bedroht? Es muss erkannt werden, dass der fast vergessene Genozid an Bosniak:innen ein Teil von anti-muslimischem Rassismus ist. Das gilt auch für die Verbrechen an Albaner:innen, Pomak:innen und auch an Rohingya und Uigur:innen. Über diese Themen muss mehr berichtet werden. Selbst wenn der Genozid nicht vergessen ist, werden die Geschehnisse auf Srebrenica reduziert. Als ob das nur 8000 Tote in fünf Juli-Tagen in einer Kleinstadt waren. Und nicht mehr als 100.000 Tote über vier Jahren in einem ganzen Land. Ich würde Leugnung von allen Genoziden weltweit strafbar machen, denn er ist ein Bestandteil von Genozid. Solche Sachen werden nicht erzählt, weil jemand eine andere Meinung hat. Das sind Menschen mit harten Ideologien, die am liebsten einen neuen Genozid verüben möchten. Wir sollten mit den betroffenen Gemeinden zusammenarbeiten und fragen: Was sind eure größten Probleme? Und dann da anfangen.

 

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