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Auf den Spuren der Wanderelche

In Bayern daheim: Vier Elchkühe leben im Freigelände in Neuschönau, ursprünglich stammen sie aus Tierparks in Schweden und der Schweiz. (Bild: Christoph Wagner)

Ihr dichtes Fell dampft. Und aus den Nüstern strömt warmer Atem, der in der eisigen Winterluft zu einer Wolke wird, die höher steigt und langsam vergeht. Dann schiebt Christoph Wagner die Karotte durch den Zaun. Die Elchkuh reckt den Kopf, trottet gemächlich auf ihren Tierpfleger zu. Und beißt ab. Wagner krault ihr den breiten Nasenrücken, worauf die  Elchkuh mit den Ohren wackelt, die für dieses Riesenwesen erstaunlich klein sind.

Seit knapp zehn Jahren arbeitet Christoph Wagner, 26, im Freigelände des Nationalparks Bayerischer Wald. In Neuschönau, einem kleinen Ort nahe der tschechischen Grenze, kümmert er sich um Otter und Käuze, Wildkatzen und Hirsche. Allesamt sind es Tiere, die im Bayerischen Wald heimisch, in freier Wildbahn aber nur schwer zu beobachten sind. Oder solche, die es einst waren, dann aber ausgerottet wurden. So wie die Elche.

Im Mittelalter durchstreiften Elche noch die deutschen Wälder. Dann hat der Mensch sie bejagt und gewildert, auch ihr Lebensraum änderte sich. Vor knapp dreihundert Jahren wurde schließlich der vorerst letzte deutsche Elch erlegt. Seit einiger Zeit hört man von ihrer Heimkehr: In den vergangenen Jahren haben Anwohner im Bayerischen Wald immer wieder Elche gesichtet. Sie wandern aus Tschechien herüber, kurz darauf verschwinden sie wieder. Beinahe wie Waldgeister.

Ein Schlaraffenland für Elche

Jeden Vormittag versorgt Tierpfleger Christoph Wagner die Elche mit Kraftfutter, dazu gibt es Heu und Hölzer zum Knabbern. (Bild: Annika Brohm)

Selbst im Gehege des Nationalparks braucht man etwas Glück, um die Elche beobachten zu können. In Neuschönau leben sie auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie sechs Fußballfelder. „Nur wenn es etwas zu fressen gibt, dann kommen sie immer“, sagt Wagner. Gemächlich richtet der Tierpfleger das Futter für die Elche her: spezielle Pellets für ihren empfindlichen Magen. Zu dritt warten die Elchkühe am Zaun und beginnen zu wimmern, leise und klagend. Es ist ein Geräusch, das nicht so recht zu ihrer wuchtigen Statur passen will. Laut sind die Kühe nur, wenn ein Elchbulle zur Brunftzeit um ihre Gunst wirb röhrt.

Seit dem Tod des letzten Bullen vor einigen Jahren hat man den Ruf im Bayerischen Wald nicht mehr gehört. Im Nationalpark sind sie zurzeit auf der Suche nach einem männlichen Tier, das neue Gene in die kleine Elchherde im Freigelände bringt. Man müsse nur noch einen Tierpark finden, der einen Elchbullen gegen eines ihrer weiblichen Tiere tauschen will, erzählt Christoph Wagner. Er verteilt noch etwas Heu in den Trögen, dann verlässt er den Stall und öffnet von außen das Gitter, das die Elche bislang von ihm und dem Futter getrennt hat. Die Elche sind versorgt. Nun ist es Zeit, sich um die anderen Tiere zu kümmern. Auf dem Weg zu den Nachbarn, der Braunbärenfamilie mit zwei Jungen, zeigt Wagner auf eine Fichte im Elchgehege. Die unteren Nadelreihen sind kahl und nackt. „Das haben die Elche alles abgeknabbert“, sagt er, „diese Vielfraße.“

 

(Audio: Günter Tembrock, Tierstimmenarchiv Museum für Naturkunde Berlin)

Es lebt sich gut als Elch im Bayerischen Wald. Nicht nur unter der Obhut der Tierpfleger, sondern auch außerhalb des Geheges: Seit Jahrzehnten haben Menschen nicht mehr in die Entwicklung des Waldes eingegriffen, auch nach heftigen Windwürfen und Borkenkäferbefällen in den Achtzigern hat die bayerische Landesregierung nicht aufgeforstet. Wandert man durch den Wald, sieht man junge Bäume neben alten, dazwischen immer wieder modrige Stämme: totes Holz, aus dem die Natur neues Leben hervorbringt. „Strukturvielfalt bedingt Artenvielfalt“, heißt es auf einer Infotafel am Wegrand. Auch der Elch könnte von dieser Strukturvielfalt profitieren: Auf den kahlen Flächen wachsen junge Laubbäume wie Pappeln und Ebereschen heran, daneben Heidelbeersträucher und Kräuter. Leibspeisen für die Vielfraße. Der Bayerische Wald ist ein reich gedeckter Tisch für sie, zudem werden Elche in Deutschland durch das Jagdrecht ganzjährig vor Abschüssen geschützt. Warum bleiben die Wanderelche aus Tschechien dann nicht dauerhaft in Bayern? Wagner zuckt etwas ratlos mit den Schultern, dann sagt er: „Vielleicht sind ja noch mehr da, die bisher einfach noch nicht gesehen wurden.“

Ein ungelöstes Rätsel

Wer den Wegen des Nationalparks folgt, kann mit etwas Glück Rothirsche, Braunbären oder Luchse in ihrem Gehege beobachten. (Bild: Annika Brohm)

Der Freistaat ist gut vorbereitet auf die Rückkehr der Elche. Vor einigen Jahren hat das bayerische Umweltministerium einen Elchplan herausgegeben. Der Untertitel: „Strategien zum Umgang mit wandernden Elchen“. Bei Wildarten, die Konflikte verursachen können, gelte es, „in einem frühen Stadium verlässliche Spielregeln zu erarbeiten“, heißt es darin. Eine der Spielregeln besagt, dass die natürliche Zuwanderung zwar stattfinde. Aktiv gefördert werden solle sie aber nicht. Außerdem sollten Elchsichtungen fortan gemeldet werden, „um rechtzeitig entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.“

Wenn jemand in Bayerns Wäldern einen Elch sieht, dann ist Reiner Karsch meist der Erste, der davon erfährt. Seit neun Jahren ist der Rentner als ehrenamtlicher Elchbeauftragter mehrerer Landkreise im Dienst. Anfangs hat er jährlich bis zu acht solcher Meldungen entgegengenommen. Meistens von Verkehrsteilnehmern, hin und wieder auch von Jägern. Dann blieb sein Telefon für längere Zeit still. „Seit 2016 hat der Bestand deutlich abgenommen“, sagt er. Im vergangenen Jahr habe er lediglich einen Anruf erhalten. „Ich bin davon ausgegangen, dass die Beobachtungen zunehmen werden“, sagt er, „aber wie das bei Wildtieren häufig der Fall ist: Die Bestände schwanken.“

Das Rätsel um die Wanderelche konnte auch er noch nicht lösen. Dabei setzt er alles daran, um mehr über ihr Verhalten zu erfahren. Sobald er von einer Beobachtung erfährt, sucht er vor Ort nach Spuren, die der Elch hinterlassen hat: Hufabdrücke etwa, Schäden an Bäumen oder auch einzelne Haare. Als weiteres Beweisstück dienen ihm Bilder, die entstehen, wenn ein Elch in eine der Fotofallen im Bayerischen Wald tappt. Eine der Aufnahmen zeigt einen schmächtigen Jungbullen, der im Mai 2015 in der Region umherzog. Nur wenige Tage später marschierte er durch einen defekten Wildzaun auf die nahegelegene Autobahn, wo er überfahren wurde.

Ertappt: Ein Jungbulle durchstreifte im Mai 2015 den Osten Bayerns . (Bild: Nationalpark Bayerischer Wald)

Das Hauptproblem sind die Gefahren für den Straßenverkehr“, erklärt der Elchbeauftragte. Dass Elche Unfälle verursachen, ist keine Seltenheit. Die Großhirsche haben keine Angst vor Autos; sie flüchten nicht vor ihnen, sondern verharren an Ort und Stelle. „Da kann es sehr schnell passieren, dass auf dem politischen Feld eine starke Aversion gegen große Wildtiere entsteht“, sagt Karsch.

Sobald Einschränkungen durch den Elch drohen, scheint die anfängliche Begeisterung über die Sichtungen schnell abzuflachen. Es sei durchaus möglich, sagt Karsch, dass es auch illegale Abschüsse gab. Über mögliche Motive der Jäger könne man freilich nur spekulieren. „Wenn in den letzten zwei Jahren etwas in der Richtung passiert ist, dann spricht man natürlich nicht darüber.“ Wie es nun weitergeht mit den Elchen im Bayerischen Wald? Schwer zu sagen, glaubt Karsch. Weil die Größe der Elchpopulation naturgemäß schwankt, könne man keine belastbaren Aussagen machen. Und dann nennt er noch einen weiteren denkbaren Grund für den Rückzug der Wanderelche: „Der Klimawandel hat möglicherweise einen Einfluss. Wie stark der ist, lässt sich allerdings nur schwer abschätzen.“

Je kälter es wird, desto wohler fühlen sie sich

Auch Marco Heurich ist der Meinung, dass die Erderwärmung das Verhalten der Elche beeinflussen könnte. Der Forstwissenschaftler arbeitet in der Nationalparkverwaltung und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Verbreitung von Elchen im Bayerischen Wald. „Man weiß nicht viel über die Elche, die bei uns vorkommen“, räumt Heurich ein. Es könne mehrere Gründe haben, warum sie nicht dauerhaft in Bayern bleiben. Die Winteridylle im Bayerischen Wald sei jedenfalls trügerisch: „Auch wenn wir jetzt viel Schnee haben, spüren wir schon massive Änderungen durch den Klimawandel“, sagt Heurich. In den Siebzigern habe es in der Region höchstens fünf Sommertage mit Temperaturen über 25 Grad gegeben. Vor zwei Jahren seien es vierzig gewesen. „Das zeigt die Vehemenz des Klimawandels: Wir haben fast in jedem Jahr neue Rekorde, was die Durchschnittstemperatur angeht.“

Trügerische Winteridylle: Der Klimawandel macht sich auch im Bayerischen Wald bemerkbar. (Bild: Annika Brohm)

Für die Elche, die Großhirsche aus dem kühlen Norden, könnte die Erwärmung zur Belastung werden. Wenn es klirrend kalt ist, fühlen sie sich am wohlsten. Wird es zu warm, leiden sie unter Hitzestress. Dann kühlen sie sich im Wasser ab oder legen sich, so wie die Elche im Freigelände es im Sommer tun, träge auf die Wiese. Der Klimawandel sei allerdings nicht das einzige Problem für die Elche, erklärt Heurich. Wie der Elchbeauftragte Karsch erzählt auch er von Verkehrsunfällen und fehlendem Engagement. „Ich finde es jammerschade, dass sich so wenige Menschen für die Elche interessieren“, sagt er, „schließlich handelt es sich um etwas sehr Besonderes, wenn so eine spannende Art bei uns vorkommen kann.“

Wer den Nationalpark und seine Elche hinter sich lässt, sieht auf der Landstraße immer wieder Schilder, die vor kreuzenden Wildtieren warnen. Draußen fliegt der verschneite Dezemberwald vorbei, im Radio laufen Weihnachtslieder. Chris Rea singt von der lang ersehnten Heimreise an den Festtagen, „it’s gonna take some time, but I’ll get there“. Eine Heimkehr-Hymne in Dauerschleife. Der Wolf ist in die deutschen Wälder zurückgekehrt, zweihundert Jahre, nachdem man ihn ausgerottet hatte. Und auch der Luchs kam in den Achtzigern wieder. Bei beiden Arten ging es um Lebensräume im Wandel, um illegale Abschüsse, vor allem aber um die Einstellung des Menschen. Ob auch der Elch eines Tages wieder in Bayern heimisch sein wird? Heurich zögert nicht, als er antwortet: „Wenn die Elche sich gut vermehren und entwickeln könnten, dann hätten wir auch mehr von ihnen hier.“ Letztendlich, sagt er, ginge es um die gesellschaftliche Akzeptanz. Und damit um die Frage, wie der Mensch die Elche willkommen heißt, sich für sie interessiert und auch Konflikte aushält, die mit der Rückkehr einer solchen Tierart in ihr altes Verbreitungsgebiet einhergehen.

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