Interview: Felix Kocea

Wie haben sie den Ukrainekrieg in Bezug auf die Flüchtlingssituation bisher wahrgenommen?

Die Art, wie auf die Flüchtlinge reagiert wurde, hat sich extrem unterschieden von all dem, was man so in den Vorjahren in Osteuropa gesehen hat. Gerade Staaten wie Polen und Ungarn, die in der Flüchtlingspolitik eine harte, restriktive Linie gefahren sind, sind sehr offen damit umgegangen. Es ist bemerkenswert und positiv, dass auf die Nöte der Menschen aus der Ukraine angemessen und der Notlage entsprechend reagiert wurde und dass das auch von rechten Regierungen so mitgetragen wird. Das wirft aber natürlich auch die Frage auf, warum ein ähnlicher Umgang anderen Flüchtlingsgruppen nicht zuteilwird.

Liegt das nur an der kulturellen Nähe zur Ukraine?

Nein, da spielen auch noch andere Faktoren mit rein. Zum einen ist das Bedrohungsgefühl durch den Krieg in der Ukraine ein anderes. Die Aufnahmegesellschaften haben zum Beispiel Assad oder die Taliban nicht als direkte Bedrohung wahrgenommen – hier in Deutschland hat keiner Angst vor diesen gehabt. Vor Putin aber schon. Die Befürchtung, dass der Krieg bis nach Westeuropa ausstrahlen könnte, ist groß. Der andere Faktor ist die geographische Nähe. Egal, welchen Flüchtlingskonflikt man betrachtet: Eine Konstante ist, dass die unmittelbaren Nachbarstaaten immer die Grenzen öffnen. Fast immer sind die Nachbarstaaten bereit, große Zahlen an Flüchtlingen aufzunehmen und zu versorgen. In der Regel wird das von den Gesellschaften auch so mitgetragen und von den Regierungen akzeptiert. Zusätzlich gibt es noch die Annahme, dass der Aufenthalt der Flüchtlinge nicht auf Dauer sein wird und dass es nur eine vorübergehende Aufnahme ist. Das hat sich in anderen Kriegen in der Vergangenheit allerdings als Irrtum erwiesen, etwa bei Jugoslawien.

Wieso ist die gesellschaftliche Haltung gegenüber den Ukrainer:innen eine andere als den gegenüber den Flüchtlingen aus dem Nahen Osten?

In der Zeit nach 2015 war die Haltung gegenüber Geflüchteten: „Das kostet Geld, weil sie ohne Weiteres nicht arbeiten können“. Bei den Ukrainern ist die Erwartung anders. Es gab schon eine hohe Arbeitsmigration aus der Ukraine in den Osten Europas seit 2014. Fast die Hälfte aller ausgestellten Arbeitsvisa für Nicht-EU-Bürger waren aus Polen für Ukrainer:innen. In der Regel haben diese sich gut in den Arbeitsmarkt vor Ort eingefügt. Das ist hängen geblieben in der Wahrnehmung. Man verspricht sich positive Effekte für die Arbeitsmarktsituation. Ein anderer Punkt ist die Legalität. Die Annahme ist die, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Ankunft der Ukrainer legal durch die Visafreiheit sei und nicht irregulär. Deswegen sind damit auch weniger Ängste verbunden und es wird weniger populistisch ausgeschlachtet.

Würden Sie etwas bei der Aufnahme der Geflüchteten ändern, wo liegen die Probleme?

Bei den Ukrainer*innen nichts Wesentliches. Es sind organisatorische Dinge passiert, die besser laufen hätten können. Im Grundsatz ist aber sehr Vieles richtig gemacht worden, die sofortige Arbeitserlaubnis, die Möglichkeiten zur Qualifikationsanerkennung und auch, dass man sie aus dem Bezugssystem für die Asylbewerber herausgenommen hat. Das hätte sonst das ganze Asylsystem gelähmt. Man hat sehr viele Fehler aus der Vergangenheit nicht gemacht.

Sollte man diese Massenzustrom-Richtlinie nicht dann direkt für alle Flüchtlinge gelten lassen oder würde das das System überfordern?

Ich denke, es ist keine Frage der Systemüberforderung, sondern eher der gesellschaftlichen Zustimmungsfähigkeit. Welche gesellschaftliche Dynamik würde das auslösen? Man muss sagen, dass der populistische Versuch, Migration in so einer antidemokratisch motivierten Weise auszuschlachten, wie die Populisten es versuchen, nicht den Erfolg hatte, den man befürchten musste.
Trotzdem ist es so, dass eine Massenzustroms-Richtlinie für jeden und das komplette Aussetzen der Asylverfahren wahrscheinlich zu einem Backlash in diesem antipopulistischen Trend der letzten zwei Jahre führen würde. Stattdessen – und das wäre viel konsensfähiger – müsste man die Grund- und Menschenrechte von Flüchtenden schützen und wieder Zugänge zum Asyl ermöglichen.

Gibt es Unterschiede in der Berichterstattung über Flüchtlinge im Vergleich zum Jahr 2015?

Der große Unterschied war nicht der zu 2015, sondern 2015 zu davor. Vor allem in den 90er Jahren war die Berichterstattung sehr viel kritischer und hat eine ressentimentgeladene Stimmung mitbefeuert. Das war 2015 in den ersten Monaten gar nicht der Fall. Viel von dem hat sich auch erhalten bis heute. Die Berichterstattung über die Ukrainer:innen fand ich relativ unaufgeregt, obwohl die Zahlen wirklich enorm hoch sind und es eine Herausforderung ist, das alles zu handhaben – auch im Zusammenspiel mit anderen, parallel laufenden Krisen. Da wurde nichts zu heiß aufgekocht oder demagogisch ausgeschlachtet.

Wo wurden in der Vergangenheit Fehler in der Berichterstattung gemacht?

Den Vorwurf der „False Balance“ müssen die Medien sich gefallen lassen. Es wurde kritisiert, dass die Medien angeblich zu positiv über die Flüchtlingsankünfte berichtet und die schwierigen Seiten nicht ausreichend berücksichtigt hätten. Diesen Vorwurf, dass sich die Medien zu sehr auf eine Sichtweise versteift hätten, haben sich viele Medien zu eigen gemacht. Das ist aber in diesem Flüchtlingsbereich sehr schwierig, weil es in dem Sinne ja keine zwei Pole gibt. Wenn man eine positive Geschichte über einen syrischen Arzt macht, muss man dann auch eine Geschichte über den afghanischen Messerstecher machen, damit das wieder ausgeglichen ist? Inwiefern wäre diese Ausgewogenheit wiederhergestellt, die den öffentlich-rechtlichen Sendern vorgeworfen wird, dass sie bei diesen fehlt. Das hat die Berichterstattung in eine etwas schräge Richtung getrieben, von der die AFD profitiert hat.

Inwiefern profitiert die AfD davon?

Der Begriff „Lückenpresse“ hat sich in dem Pegida-Milieu etabliert. Die Behauptung ist, die öffentlich-rechtlichen Medien hätten Merkels Grenzöffnung unkritisch mitgetragen und sich dabei schuldig gemacht, weil gefährliche Leute ins Land gekommen seien. Um diesen Fehler zu kaschieren, würden sie seither die negativen Seiten der Flüchtlingsankünfte verschweigen, es gebe Lücken in der Berichterstattung, zum Beispiel immer dann, wenn Flüchtlinge Verbrechen, Straftaten und Übergriffe begehen. Diesen Vorwurf hat man sich in einigen Redaktionen zu sehr zu Herzen genommen und versucht nun gegenzusteuern.

Wie kann dieses „Gegensteuern“ aussehen?

Mir ist das neulich passiert: Ich habe einen Kommentar über die Situation an der belarussischen Grenze geschrieben, den eine ostdeutsche Tageszeitung abdrucken wollte. Am nächsten Tag stand dann neben meinem Kommentar einer von der „jungen Freiheit“. Dass sowas passiert, ist meiner Meinung nach ein Ausdruck dessen, dass die Medien diesen aus einer populistischen oder nationalistischen Ecke heraus erhobenen Vorwurf „Sie würden Fehler, die sie in 2015 begangen haben, fortführen und die negativen Seiten der Zuwanderung verschweigen“ nicht entschieden genug zurückgewiesen haben. Deswegen ist man jetzt in der Situation, die anderen Stimmen auch zu Wort kommen zu lassen und dabei aber auch oft Ressentiments bedient und aufrechterhält.

Kann man dem entgegenwirken?

Eine gute Strategie, mit der AfD umzugehen, die sich aber leider nicht durchgesetzt hat, war ihr dieses Migrationsthema einfach zu entziehen. Man muss ihnen die Möglichkeit nehmen, permanent mit diesem Thema zu punkten. Es gab Situationen, in denen man sich offensiv dafür entschieden hat, mit der AfD nicht mehr über Migration und Flucht zu sprechen. Zum Beispiel das Sommerinterview mit Gauland 2018, als er eine Stunde von der ARD interviewt wurde und es keine Frage zur Migration und Islam gab. Das haben sie als unredlichen Angriff und als Bloßstellung empfunden. Schon die Reaktion hat gezeigt, wie sehr sie sich bei diesem Spiel „Wir machen den Leuten Angst vor den Migranten und helfen euch mit diesen Sorgen“ auf die Medien verlassen haben.

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