Die Sau als Nachbar: Wildschweine auf dem Vormarsch

Er stellt die Sau. Der Kopf ist gesenkt, die Nackenhaare stehen zu Berge. Der ganze Körper von Idefix ist angespannt, fast steif wie ein Brett. Nur so kann der kleine braun-schwarze Rauhaardackel jederzeit wieder losrennen, um sein eigentlich übermächtiges Gegenüber dingfest zu machen. Dabei ist es fast schon ein Wunder, dass sich der Jagdhund überhaupt wieder in die Nähe von Wildschweinen traut. Denn vor zwei Jahren wäre das fast tödlich ausgegangen.  

“Damals hatte eine Sau den Kleinen richtig auf die Hörner genommen”, sagt Jäger Markus. Er sei mit seinem Hund auf einer Jagd gewesen, als dieser eine Spur witterte. Im tiefen Gestrüpp habe er den Dackel gar nicht mehr sehen können. “Normalerweise war das nie ein Grund zur Sorge, weil er super abgerichtet ist und er immer wieder abgerufen werden kann. Aber an dem Tag hat man dann nur noch Jaulen gehört”.

Kein Wunder, wenn man sich den reinen Größenvergleich anschaut: Denn die Schweine können mit ihrem gedrungenen Körper gut und gerne bis zu 200 Kilo auf die Waage bringen. Mit ihren bis zu 20 Zentimeter langen Eckzähnen, die der Jäger auch “Gewaff” nennt, tragen sie außerdem eine mächtige Waffe. Als wäre das nicht schon bedrohlich genug, können die Allesfresser Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 50 Stundenkilometer erreichen. Es kann deshalb kaum verwundern, dass rund 44 Prozent in einer Umfrage der Deutschen Wildtier Stiftung aus 2020 angaben, Angst vor der Ausbreitung der Schweine zu haben. Selbst der Wolf verängstigte die Befragten weniger.    

Den Hund des Jägers traf die Sau mit voller Wucht. Mit ihrem Hauer, den scharfen Zähnen, erwischte sie Idefix damals und büchste dann aus. Dem Kleinen blieb eine sechs Zentimeter große Wunde in der Brust. Eine Begegnung wie diese ist für Hunde meist traumatisch. Ähnlich wie beim Menschen kann hier eine sogenannte Fehlverknüpfung entstehen. Und diese kann es den Tieren unmöglich machen, weiter auf die Jagd zu gehen, weiß Christian Meyer, Fachbereichsleiter des Saugatter-Hunsrück des Landesjagdverbandes Rheinland-Pfalz. Ein Saugatter könne hier eine wahre Hilfe für die Tiere darstellen. Denn hier würden Jagdhunde tierschutzkonform ausgebildet sowie der Kontakt zu Schwarzwild hergestellt. Im Anschluss werden die Hunde in mehreren Schritten auf die praktischen Aufgaben des Jagdbetriebs vorbereitet. So könne garantiert werden, dass eine Jagd für Hund aber auch das Schwarzwild geregelt verläuft. Und dass gejagt werde, sagt Meyer, sei besonders bei Wildschweinen wichtig. Nur so könne der Bestand in einem Rahmen gehalten werden, der für die Natur verträglich sei.  

Die starke Ausbreitung und das damit verbundene Auftauchen der Wildtiere in Stadtgebieten lässt sich laut dem Hessischen Umweltministerium direkt auf den Klimawandel zurückführen. “Die immer milderen Winter führen zu einer geringeren Wintersterblichkeit bei Wildtieren im Allgemeinen”, so Johann David Lenz, Sprecher des Ministeriums. Zudem begünstigten die Temperaturen häufigere Fruchtbildungen bei Baumarten wie der Buche oder auch der Eiche. „Die jeweiligen Früchte, Bucheckern und Eicheln, sind eine wichtige und sehr energiereiche Nahrungsquellen für die Wildschweine”, so Lenz weiter. Außerdem frören die Böden in milden Wintern kaum oder gar nicht mehr, wodurch Wildschweine den Boden besser nach Nahrung durchsuchen könnten. Das führe in der Summe bei Wildschweinen zu geringerer Sterblichkeit. Die in großer Menge und dauerhaft verfügbare Nahrung – etwa Bucheckern, Eicheln und andere Samen – führe zusätzlich zu einer besseren körperlichen Verfassung, welche wiederum eine erhöhte Geburtenrate ermögliche.  

Das Problem scheint also menschengemacht. Es wundert kaum, dass es immer wieder zu Wildschweinsichtungen in Wohngebieten kommt. Auch wenn das hessische Umweltministerium hierfür keine konkreten Zahlen nennen kann, steht fest: Der Mensch rückt durch seine Bebauung und Versiegelung von Grünflächen immer näher an den natürlichen Lebensraum der Wildtiere heran. Wenn das Nahrungsangebot für die Tiere, sei es durch Bioabfälle, Komposthaufen oder Fallobst auf dem Grundstück, dann auch noch entsprechend groß ist, muss sich der Mensch nicht über Wild im eigenen Garten wundern. Dennoch sank die Zahl der Abschüsse, die der Deutsche Jagverband (DJV) in seiner Statistik jährlich erfasst, zuletzt rapide. In Hessen wurden 2022/23 über 35.000 Wildscheine weniger geschossen als noch im Vorjahr.  

Ist das also eine Trendwende in der Ausbreitung der Tiere? Nein, sagt das hessische Umweltministerium. Denn die großen Schwankungen “sind bei Wildschweinen normal”, so der Sprecher. Diese seien den sich jährlich verändernden Lebensraumbedingungen geschuldet. Will heißen: Ein nasses Frühjahr und heiße Sommer können dazu führen, dass der Wildschweinnachwuchs nicht bis in den Herbst überlebt. Auch die Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest und die damit verbundene Bejagung der vergangenen Jahre spiegelt sich in der Jagdstatistik wider. Laut Ministerium arbeite man aber auch in Zukunft gegen die weitere räumliche Ausbreitung der Schweine an, was die – noch immer hohen Abschusszahlen – aus der Jahresstrecke des DJV zeigen. Angst vor einem Besuch in einem Wald voll von unkontrollierbaren, wilden Schweinen muss man in Deutschland also noch nicht haben.  

Auch Markus und sein Rüde Idefix gehen nach wie vor zusammen in den Wald. “Wenn auch nicht mehr auf die Jagd”, wie er verrät. Die Wunden bei Idefix seien zwar verheilt und er traue sich inzwischen auch wieder an Sauen ran – dennoch wolle er die Gefahr nicht eingehen, dass er seinen besten Freund wegen einer Jagd verliert. Zwar springe dieser auch heute noch immer mal wieder in ein Gebüsch, weil er eine Fährte aufnimmt. “Meistens kommt er dann aber auch glücklich und schwanzwedelnd wieder zurück.” Für den Jäger ist klar: Per se seien Wildschweine nicht das Problem. Sie gehörten seit Jahrhunderten in die deutschen Wälder. Dort erfüllten sie enorm wichtige Aufgaben im Ökosystem. Schwierig werde es erst dann, wenn man den Bestand nicht mehr kontrollieren könne, so der 56-Jährige. Dazu gehöre aber auch, so der Jäger, dass man ihnen ihren natürlichen Lebensraum ließe und diesen entsprechend schütze. “Wenn man täglich im Wald unterwegs ist, merkt man ziemlich genau, wie sehr der Klimawandel an der Natur rüttelt”. Wenn man die direkten Zusammenhänge im Wald sieht, könne man nur hoffen, dass auf Klimaschutzebene künftig entsprechend gegengesteuert würde, so der Jäger abschließend. 

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