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Du zwischen Tausenden deiner Art

Etwa vier Stunden ist es jetzt her, dass ich dich bei meinem Spaziergang entdeckt und direkt mitgenommen habe. Du bist mir aufgefallen. Aufgefallen zwischen Tausender deiner Art – in einem Waldstück namens Hexenpfad. Kein Wunder, dass man diesen mystischen Ort in der Altrhein-Auenlandschaft auch Schatzinsel nennt. Du bist nicht sonderlich groß geraten, aber deine bunten Dimensionen haben mich fasziniert. Deine Struktur ist einzigartig und erinnert an Hunderte kleine Pixel. Mal sind sie braun, mal gelb, mal grün, mal weiß. Behutsam habe ich nach dir gegriffen und wollte dich vor dem wehenden Wind schützen. Deine Spitzen ragten in die eiskalte, sausende Luft, als würdest du nach ihr schnappen. Dabei hast du bestimmt schon mehrere Fußsohlen spüren dürfen. Ich wollte dich unbedingt mitnehmen. Vielleicht war es Mitleid.

Du lagst zwischen Tausenden deiner Art auf dem glitschigen Boden, der noch mit frischem Morgentau versehen war. Neben deinen noch plattgetreteneren Genoss:innen sahst du mit deiner gemaserten Haut in der Farbe von blühendem Sanddorn so erwärmend aus. Deine limettengrünen Flecken lassen darauf schließen, dass du noch restliches Leben in dir trägst, wobei dein Stiel in den Farben einer überreifen Banane damit kämpft, dich zu halten. An manchen Stellen siehst du angeknabbert, gar schimmlig aus. Mittendrin hast du sogar ein kleines Loch, durch das ich lunzen kann. Ist das eine Wunde? Auch am Rand droht deine raue Haut zu reißen. Jede noch so sanfte Berührung könnte deine hauchdünne Gestalt zerstören.

Deine Mitte ist modernd braun und hinterlässt einen erdigen Geruch in meiner Nase. An den grünen und gelblichen Stellen riechst du nach Nuss. Ich glaube, Kastanie trifft es besser. Deine Basis ist so braun wie eine Kastanie. Noch heute versetzt mich der süßlich-nussige Duft in meine Kindheit zurück. Direkt vor der evangelischen Kirche stand ein mächtiger Edelkastanienbaum, der Hunderte in ihrem stacheligen, giftgrünen Fruchtbecher fallen ließ. Das Leben bestand aus täglich neuen Entdeckungen. So war auch das Piksen in meine Fingerspitzen die Folge meiner Neugierde.

Du aber pikst nicht. Du bist empfindlich, läufst Gefahr, jeden Moment zu zerbröseln. Deine filigranen Adern können dich nicht mehr versorgen. Deine pelzige Rückseite bringt mich dazu, dich sanft zu streicheln. Mit jeder Minute, die du vor mir liegst, verlierst du immer mehr an Farbe. Auf deiner gesprenkelten Haut kann ich nur noch zwischen verschiedenen braunen Nuancen unterscheiden. Deine Spitzen rollen sich immer mehr ein, als würdest du dich selbst wärmen und schützen wollen. Ich wählte dich, ausgerechnet dich, zwischen Tausenden deiner Art. Und ich weiß, dass ich dich nicht für immer behalten kann. Aber wer hätte gedacht, dass ein einfaches Blatt so viel in mir auslöst?

FOTO: ANNA BALLAY
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