Eins: Anfang

Hätte mich jemand in der Jugend gefragt, was Zeit ist, wäre die Antwort denkbar kurz ausgefallen: Ich weiß es nicht. Sie ist ein abstraktes Konstrukt, in welchem ich mich lose wiederfinde. Sie bestimmt die Richtung, ist stiller Begleiter, mehr aber nicht.

Zwei: Die Zeit, die Zeit

Wenn ich heute Google frage, was Zeit ist, bekomme ich innerhalb von 0,49 Sekunden 1.370.000.000 Ergebnisse. Sie ist eine physikalische Größe, ihr Kürzel ist t. Ein einziger Buchstabe, der für alles steht, was noch passiert oder bereits vergangen ist. Weiter heißt es, dass die Zeit die Abfolge von Ereignissen beschreibt – sie also eine eindeutige, nicht umkehrbare Richtung hat. Linear, unendlich.

Und sie beschreibt: Zeit ist Geld, Zeit ist begrenzt, Zeit heilt alle Wunden. Kommt Zeit, kommt Rat. Es dreht das Rad der Zeit, wir sind am Zahn der Zeit. Die Zeit gibt den Takt vor. Zeit ist, was wir am wenigsten besitzen, wenn wir sie denn überhaupt besitzen. Sie ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Zeit fließt, die Zeit bleibt stehen. Zeitenwende. Am Ende ist Zeit doch relativ. Klingt das noch linear? Unendlich? Ich weiß es nicht.

Ölschiefer, bewachsen mit Moos in der Grube der Zeit, der Grube Messel.
FOTO: ANNA BALLAY

Drei: Die Grube

Schritt für Schritt durchdringe ich den Nebel. Ich sehe nicht, wohin der Weg mich führt, ich sehe nur Farn. Überall Farn. Ein Gewächs aus der Urzeit, Karbon nennen wir sie heute. 360 Millionen Jahre alt und trotzdem hier. Die Farben sind blass, fast so, als verlasse sie die Kraft zu dieser kalten Jahreszeit. Ich bleibe stehen. Die Luft ist nass, ich spüre meine Finger nicht. Eigentlich ist mir zu kalt, ich will zurück, aber die Zeit vergeht langsamer hier, für einen kurzen Moment steht sie fast still: 

t   i   k   t   a   k. Es gibt keinen Weg zurück, nicht bei der Zeit. Sie beschleunigt wieder: tik tak tik tak tik tak. Einstein hatte Recht, denke ich mir, Zeit ist relativ. 

Ich gehe weiter.

Zu meiner Rechten schaue ich auf schwarzes Gestein. Es ist porös, schillert ein wenig im gedimmten Licht. Will mir seine Geschichten erzählen. Von Algen und Ton, vom Leben und Tod. Jede dünne Schicht des Ölschiefers, ist wie eine Seite in einem Buch, dass so viel älter ist, als ich es mir vorstellen kann. Ich schlage eine Seite auf, rieche Erde und sehe Leben. Eingefroren in der Zeit, damit wir in diesem Moment zusammen existieren. Ich berühre das Fossil sanft, lausche seiner Erzählung. Es ist eines von vielen, so wie ich eine von vielen bin. Es teilt mit mir seinen letzten Atemzug. Zeigt mir, wie es war und wie es sein wird.

Mit jedem Schritt nähere ich mich der Grube der Zeit und auch ich hinterlasse Spuren. Wie das Wasser des letzten Regens, bahne ich mich durch den Boden und verändere meine Umgebung, so wie es einst andere taten. 20 Millionen Tonnen tragen sie ab. Etliche Geschichten, die ich hätte lesen können, werden verbrannt und zurück bleibt, was sie abfällig als Schlacke bezeichnen. Unbrauchbar und wertlos. Doch der nächste Regen trägt mich wieder fort. Es ist, als war ich nie hier. Meine Abdrücke verschwinden. Leise streift die Luft wie ein Wiegenlied durch das Geäst der umliegenden Flora. Hätten wir sie schlafen lassen sollen?

Ich durchbreche den Nebel, ohne es zu merken und komme an, in der Grube der Zeit. Es ist ruhig hier unten. Ich atme kalte Luft ein, atme aus. Kurz bin ich nicht nur Gast, sondern Teil meiner Umgebung. Mein Blick schweift herum, stolz zeigt mir die Natur ihr Werk. Sie holt sich das zurück, was ihr zusteht und die Zeit ist ihr treuer Gefährte. Sie re-naturalisiert das Denaturalisierte, formt es gewaltvoll nach ihren Vorstellungen. Sie lässt mich demütig zurück. Wie klein ich doch bin.

Erinnerungen kommen hoch. Mein altes Ich ruft mir zu, ich sei schon einmal hier gewesen. Ich weiß nicht mehr wann, ich weiß nicht mehr warum. Trotzdem: ein Gefühl der Geborgenheit kommt hoch. Meine Finger werden warm. Ich passe mich an. Ich bin da. Im jetzt und hier. Der einst graue Schleier, der meine Augen trübt, ist fort. Es ist, als wolle mir die Grube ihr größtes Geheimnis zeigen. Ein Geheimnis, das sie seit Jahrtausenden bewahrt. Ihre tiefste, innere Wahrheit. Ich blicke auf, horche dem Geflüster und sehe klar.

Der Weg zurück an die Oberfläche ist derselbe. Derselbe alte Farn, dasselbe schwarze Gestein. Sie flüstern weiter ihre Geschichten von Algen und Ton. Von Leben und Tod. Geschichten, die mich überdauern werden. Ich verlasse den Weg und blicke noch einmal zurück: Die Grube hat sich wieder in denselben dichten Nebel gehüllt und wartet geduldig auf ihre nächsten Besucher.

Ein Blick in die Grube Messel, die Grube der Zeit. Im Vordergrund steht ein Baum mit gelben Blättern.
FOTO: ANNA BALLAY

Vier: Ende

Wenn mich heute jemand fragt, was Zeit ist, weiß ich eine schlichte Antwort: Sie ist eine Naturgewalt. Größer und ungreifbarer als alles, was jemals war und jemals sein wird. Langsam erodiert die Zeit die Gefüge meines Lebens, verändert deren Äußeres und hinterlässt tiefe Furchen. Mit jeder Schicht, die sie abträgt, verwandelt und entfaltet sie. Unnachgiebig. Linear. Unendlich.

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