Das dampfende Wasser steht Jan jetzt bis zu den Knien. Langsam und vorsichtig bewegt er sich weiter in den See hinein. Für einen Moment scheint es, als würde er durch heiße Brühe stapfen. Die digitale Armbanduhr zeigt 6:12 Uhr, während er in aller Ruhe das leicht gebogene, anthrazitfarbene Rohr mit braunen Kugeln befüllt. Jeder Handgriff ist Routine und gelingt blind. Ein kurzer Blick in die Ferne, ein letztes Umgreifen am Wurfgeschoss. Er holt aus. Eine schwungvolle Bewegung mit dem rechten Arm bugsiert die Kugeln in die Luft. Etwa 60 Meter entfernt treffen die Kügelchen auf das ruhende Wasser – die Morgenstille am Edersee wird dabei nur in Sekundenbruchteilen unterbrochen.
„Mit normalen Ködern kommt man bei Karpfen nicht weit“, erklärt Jan. Wolle man professionell auf Karpfen angeln, brauche es bestimmtes Futter, sagt der 26 Jahre alte Angler. Damit spielt er auf die braunen Kugeln an, die er zuvor mit seinem Wurfrohr ins Wasser geworfen hat: Boilies. Sie bestehen hauptsächlich aus Fischmehl, das mit Blutmehl, Maismehl oder Hanfmehl gemischt wird. Ergänzt mit Ölen und Extrakten wird die Masse zu Kugeln geformt und gedämpft; das Leibgericht aller Karpfen.
Dass Jan schon so früh morgens am Gewässer startet, passiert eher selten. Meist angelt er gemeinsam mit der einbrechenden Dunkelheit. „Zwei Stunden vor Sonnenuntergang ankommen, eine Runde um den See gehen und schauen, wo Fische springen. Dann ganz entspannt durch die Nacht angeln“, stellt er seine Vorliebe klar. Schon im Kindesalter folgte er seinem Onkel an die Gewässer Mittelhessens, probierte sich im Angeln aus, verliebte sich in die Fischerei und all ihre Facetten. Der Jugendfischereischein folgte im Alter von zwölf Jahren. „Vom Angeln werde ich nie loskommen, auch wenn sich einiges verändert hat.“
Und damit ist er nicht allein. Laut dem Deutschen Angelfischer-Verband gehen in Deutschland etwa 6,6 Millionen Menschen einmal im Jahr der Angelfischerei nach. Die Tendenz ist steigend. Damit einher gehen Veränderungen: „Die Vorstellung von dem alten Mann, der den ganzen Tag auf dem Stuhl am Wasser sitzt und wartet, bis er den Fisch fängt, das gibt es schon lange nicht mehr.” Es gehöre mehr dazu, als das einfache Fangen von Fischen. „Man sollte sich auch mit dem Verhalten der Tiere auskennen, Gewässer lesen können, Schonzeiten und Tiefenkarten beachten.“ Den Edersee kennt er gut, hat das Gewässer schon unzählige Male beangelt. Einen „Run”, so die Bezeichnung für den Biss eines Karpfens, hatte er heute noch nicht. Doch Geduld sei beim Angeln ohnehin das A und O.
Und diese Zeit nutzt er. Er geht das Ufer ab, hebt Plastikflaschen und Müllreste auf. „Viele Leute, die in der Natur unterwegs sind, lassen Grills oder Müll von ihren Partys hier liegen.” Ihn ärgert das. Der Angler sei nicht nur an der Entnahme von Fischen interessiert, sondern setze sich auch für eine stetige Verbesserung der Lebensräume vor Ort ein. Dadurch fördere das Fischen den Naturschutz. „Wir räumen Müll weg, sorgen dafür, dass Fischen natürliche Bereiche im Wasser geboten werden, in denen sie geschützt sind.” Und sie „besetzten” auch Fische, um den Bestand für die nächste Generationen zu sichern.
Für Jan bleibt der frühsommerliche Morgen weiterhin ein „Schneidertag” – ein Tag ohne Fang. Am Edersee, in den mittelhessischen Teichen und vor allem bei seinen Angelabenteuern in Frankreich, hieß es meist „Petri Heil“. Hatte er dort einen Run, wurde der Fisch vorsichtig abgehakt und dann für ein kurzes Erinnerungsfoto in die Kamera gehalten. Danach setzte er den Karpfen schonend ins Gewässer zurück. Diese Angelpraktik, genannt „Catch and Release“, ist bei Freizeitanglern beliebt, bei Tierschützern jedoch umso umstrittener – auch Jan erntete dafür schon Kritik: „Als ich letztes Jahr einen schönen 30-Pfünder abgehakt und dann zurückgesetzt habe, hat mich ein Spaziergänger beobachtet und dann übel beschimpft.“ Dabei ist er sich sicher, dass vor allem das Zurücksetzen der großen Fische zur Sicherung der Bestände beitrüge. „Die Großen geben einfach extrem viel und guten Laich ab. Setzen wir sie also schonend zurück, sichern wir die Bestände und tragen auch zur Vielfalt und zur Entwicklung der Gewässer bei.“
Die hiesigen Tierschutzorganisationen sind allerdings anderer Meinung. Sie sagen, dass das Angeln und Freilassen von Fischen als reine Freizeitbeschäftigung unnötiges Leid hervorrufe. So meint die „PETA“, dass Catch and Release reines Trophäenangeln sei. Der Fisch leide dabei an Atemnot und die sensible Schleimhaut der Wirbeltiere könne beim Anfassen verletzt werden. Auch der Deutsche Tierschutzbund übt auf seiner Website Kritik aus: „Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ein Großteil der lebend zurückgesetzten Fische später sterben. Die Fische sind durch den Kampf an der Angelleine schwer verletzt. Durch das Herumreichen und längere Halten an Land fügen Angler ihnen ebenfalls Verletzungen zu.”
Die einzig sichere Grundlage dazu bietet die Gesetzeslage – so heißt es im Gesetzes- und Verordnungsblattes für das Land Hessen: „Fischfang, der allein Sport- oder Hobbyzwecken dient und das Zurücksetzen aller gefangener Fische vorsieht (Catch-and-Release), ist verboten.“ Jan hält von diesem Dekret wenig. Er lässt dabei vorsichtig durchblicken, dass das Zurücksetzen der Fische in Hobbyangler-Kreisen weit verbreitet sei.
Die kritisierte Angelpraktik hat am heutigen Morgen noch keine Anwendung gefunden. Seine Armbanduhr zeigt mittlerweile 8:25 Uhr, die Sonne scheint auf den glitzernden See. Jan wirkt ungeduldiger, zieht sich immer wieder seine camouflage-befleckte Wathose zurecht. Ein wiederholter Check am „Rig”, den an der Hauptschnur montierten Ködern und ein langer, konzentrierter Blick auf das weite Nass. „Man weiß nie, was einen erwartet, es können eigentlich immer irgendwelche Sachen am Wasser passieren“, redet er sich letzte Hoffnung zu. Vergeblich, doch der nächste Run wartet schon auf ihn.