Wenn er heute aus dem Fenster seines Büros blickt, sieht er keine wütenden Jugendlichen mehr, die mit Plakaten und Megafonen vor dem Bundestag protestieren. Was hätten sie auch noch fordern sollen? Massentierhaltung, Atom- und Kohlekraftwerke sowie Verbrennungsmotoren gehören der Vergangenheit an. Zurecht, findet Peter Roth.
Vor 30 Jahren begann sein Aufstieg in der Politik. In einer Zeit als Angela Merkel Bundeskanzlerin war, es Billigfleisch in jedem Supermarkt gab und Autos die Innenstädte dominierten. Damals befand sich Deutschland an einem Wendepunkt: Ein Virus lähmte die gesamte Welt und legte Missstände offen, die eigentlich längst bekannt waren. Seufzend wendet er sich vom Fenster ab. Wenn er über die damaligen Zustände nachdenkt, kommt es ihm wie eine lange, schwere Krankheit vor.
In 13 Jahren als Bundeskanzler hat Roth vieles in Bewegung gesetzt: Mindestpreise für Fleisch- und Milchprodukte eingeführt, E-Mobilität gefördert, Inlandsflüge stärker besteuert, Flugpreise reguliert und den Schienenverkehr sowie Radwege ausgebaut. Auch die Digitalisierung hat Roth ganz oben auf die Agenda gesetzt. Künstliche Intelligenz sowie die nationale Dateninfrastruktur liegen in öffentlicher Hand. Eigentlich nur logisch, wenn er so darüber nachdenkt: Automobilherstellern haben wir schließlich auch keine Hoheit über unsere Straßen gewährt wie damals den Tech-Unternehmen über unsere Daten.
Trotz seiner politischen Erfolge scheint der Aktenstapel auf seinem Schreibtisch nicht zu schrumpfen. Er fährt sich mit der Hand über die grauen Bartstoppeln und scrollt durch seine To-do-Liste auf dem Smartphone. Vor dem Feierabend muss er unbedingt noch eine Gesetzesvorlage gegenlesen, ehe demnächst im Bundestag darüber abgestimmt wird. Mit dem „Desinformationsgesetz“ will die Regierung gegen die gezielte Verbreitung von Fake News vorgehen.
Eine Aufgabe, die sich auch bequem von zu Hause aus erledigen lässt, beschließt er. Das flexible Arbeitszeitmodell mit Homeoffice, dass es nun seit der Virus-Krise gibt, gilt schließlich auch für Politiker. Mit ein paar Klicks bucht sich Roth über ein Sharing-Angebot ein E-Auto. Wie sich die Zeiten ändern, schmunzelt er. Statt ein bis zwei Wagen pro Haushalt, liegt der Fokus jetzt auf Teilen. Ein starker ÖPNV mindert zudem den Reiz eines eigenen Fahrzeugs. Generell hat sich viel im Bereich Mobilität und Energiewende getan. Der Bundesrepublik ist es gelungen, vollständig auf erneuerbare Energien umzusteigen. Auch jetzt gerade, wenn er über die langen Flure des Bundestags läuft, wird Strom produziert: durch kleine Sensoren im Fußboden.
Tatsächlich war Roth aber nicht immer so prinzipienfest wie er sich jetzt gibt. Als aufsteigender Politiker hat er Minimalismus gepredigt, sich dann aber jedes zweite Jahr ein neues Smartphone gegönnt. Doch diese Zeiten sind lange vorbei: Seitdem die geplante Obsoleszenz verboten ist, halten technische Geräte deutlich länger. Zudem haben sich die Hersteller dazu verpflichtet, das Cradle-to-Cradle-Prinzip in ihrer Produktion umzusetzen. Der komplette Lebenszyklus eines Produkts wird bei der Herstellung mitgedacht, sodass die Geräte technisch wiederverwertbar sind. So entsteht erst gar kein neuer Müll. Noch so eine Idee, die er durch den Bundestag gebracht hat.
Unten im Vorhof angekommen, steigt Roth in den gemieteten Wagen und fährt los. Mittlerweile ist es später Nachmittag und die Menschen strömen in den Feierabend. Und früher standen wir zu dieser Stunde freiwillig im Stau, bemerkt Roth kopfschüttelnd. Damals wäre er auch eine Abkürzung durch die Innenstadt gefahren – doch die ist mittlerweile für den Autoverkehr gesperrt. Also geht es für ihn am Stadtrand vorbei durch das Industriegebiet.
Hier haben sich die Fabriken vor vielen Jahren noch bis an den Horizont gefressen. Die Betonklötze gingen nahtlos in den grauen Himmel über, erinnert sich Roth. Seitdem allerdings die Ökologie und nicht mehr die Wirtschaft die Basis des politischen Handelns ist, sind viele Unternehmen insolvent gegangen und die Natur erobert ihren Raum zurück. Die Regierung hat sich vom Streben nach wirtschaftlichem Aufschwung verabschiedet und orientiert sich an einen suffizienteren Lebensstil. Das deckt sich auch mit der Glücksforschung: Ab einem jährlichen Nettoeinkommen von 60.000 Euro wird das Leben ohnehin nicht mehr glückseliger. Dementsprechend wurde im wirtschaftlichen Bereich einiges geändert: So werden staatliche Subventionen nach nachhaltigen Kriterien vergeben. Unternehmen, die zum Beispiel auf recycelbare Verpackungen setzen, ihre Lieferkette auf Deutschland und das europäische Ausland begrenzen oder besondere gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, werden nach dem Nachhaltigkeitskodex hoch bewertet.
Der Weg hierhin war allerdings mühsam und steinig, weiß Roth. Es bedurfte viel Mut und Entschlossenheit, die Bevölkerung von diesen strengen Maßnahmen zu überzeugen. Anfängliche Steuervorteile für Bürger, die sich klimaneutral verhalten, wurden schnell verworfen, da dies die soziale Ungleichheit verschärft hat. Um eine Rebound-Ökonomie dennoch zu verhindern, wurde zu Steuererhöhungen zum Beispiel für Verbrennungsmotoren gegriffen. Das Ergebnis: Die Menschen sind für die Wertschöpfungsketten sensibilisiert, das Kaufverhalten hat sich zugunsten ökologischer Aspekte gewandelt und Unternehmer sehen sich gezwungen, ihr Image „grün“ zu gestalten.
Lief doch eigentlich ganz gut, resümiert Roth zufrieden. Dieser kurze Moment des Glücks erlischt aber je, als er in seine Straße einbiegt. Vor seinem Haus haben sich aufgebrachte Rentner mit Transparenten versammelt. „Früher war alles besser“, ruft ihm der Erste entgegen. Soviel zu erfolgreichem Change-Management, brummt Roth vor sich hin und kämpft sich durch die letzten Gegner.