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Neue Mobilität: Grundlagen für die journalistische Recherche

Der Einfluss der Automobilindustrie

Das Mobilitäts- und Verkehrsthema erschließt sich nur, wenn man zunächst den besonderen Stellenwert des Autos in einem historischen Rückblick betrachtet – was übrigens auch bei jungen angehenden Journalistinnen und Journalisten in der Ausbildung, die nicht mit diesen Themen aufgewachsen sind, auf Interesse stößt. In einem Themenschwerpunkt „Auto der Zukunft – Wie soll es aussehen“ (mit Fragebogenaktion) schreibt Henning Sußebach im ZEITmagazin (29.8.2013) treffend:

„Das Verhältnis der Deutschen zum Auto war nie normal. Schließlich wurde es hier erfunden, es stiftet Stolz und gibt Generationen Arbeit. (…) Das Auto ist eine Herausforderung für den modernen Menschen, für sein Es und Ich und Über-Ich.“

Die Automobilindustrie ist in Deutschland mit über 800.000 Beschäftigten immer noch der bedeut­samste Industriezweig, wobei gut zwei Drittel der Produkte ins Ausland verkauft wird. Viele weitere Wirtschaftsbereiche hängen indirekt vom Auto ab. Die Branche verfügt in Deutschland und auf der EU-Ebene über mächtige Verbands- und Lobbystrukturen. Besonders hervorzuheben ist hier der Verband der Automobilindustrie – VDA. Entsprechend stark ist die politische und publizistische Einfluss­nahme, wie in der Diskussion um die zukünftigen CO2-Grenzwerte deutlich wird. Beispielhaft verwiesen sei auf den ZEIT-Artikel „Ein Superkredit“ zur Kontroverse um die sogenannten Super Credits – krumme Bonusanrechnung lokal niedriger CO2-Werte von Elektromobilen auf den Verbrauch der gesamten Flotte eines Herstellers. Eigenständige Verkehrspolitik gegen diese Strukturen ist nur dann möglich, wenn starke Wählergrup­pen sie unterstützen und Leitmedien professionell berichten. Es verwundert daher nicht, dass politisch neue Impulse für eine nachhaltige Mobilität in erster Linie von der EU-Ebene kommen – siehe dazu etwa das EU-Weißbuch Verkehr 2050, auf das hier unter Teil 4 „Lösungsansätze″ noch eingegangen wird.

Wichtigster Werbekunde der Medien

Gleichzeitig ist die Autoin­dustrie neben den Handelsorganisationen der wichtigste Werbekunde deutscher Medien. 2019 gab die deutsche Pkw-Branche mehr als 2,2 Milliarden Euro für Werbung aus. Nicht unproblematisch für das Ver­hältnis der deutschen Autoindustrie und Teile des Journalismus sind auch Privilegien wie die noch immer gewährten Journalistenrabatte für Neuwagen einzelner Hersteller.

Das Inte­resse an einer ambitionierten Verbrauchs­senkung durch Downsizing der gesamten Produktpalette – also der Bau kleinerer, leichterer Autos und leistungsschwächerer Motoren – oder an einer schnellen Umstellung auf Elektromobilität hält sich bei der Mehrzahl der deutschen Hersteller in Grenzen, weil es ihr rendite­trächtiges Geschäftsmodell gefährdet. Einzelne Hersteller wie BMW gehen aber auch mutig neue Wege mit Neuentwicklungen wie dem BMW i3, einem kompakten Elektroauto mit Carbon-Aufbau zum Ausgleich des Mehrgewichts durch die Batterie. Frank Drieschner beschreibt im ZEIT-Beitrag „Das politische Auto“ die mögliche gesellschaftliche Wirkung des BMW i3.

Aufgrund ihrer Vorreiterstellung im Premiummarkt gilt Deutschland mit seiner Autoindustrie – ähnlich wie bei der Umstellung auf erneuerbare Energien – als Vorbild für andere Länder. Bisher konnten deutsche Hersteller auch international Trends setzen. Im Elektrobereich dominieren weltweit bisher aber andere Hersteller: Toyota mit Lexus bei Hybridautos und Tesla (Kalifornien) bei reinen Elektroautos im Oberklassensegment. Uwe J. Heuser fragt in einem ganzseitigen Erlebnisbericht zum Tesla S in der ZEIT: „Ist das die Zukunft?“.

Historische Themenentwicklung

Der gesellschaftliche Stellenwert des Autos ist eng mit der Nachkriegsgeschichte Deutschlands verknüpft. Als wichtigstes Symbol des Wirtschaftswunders prägen das Auto und das engmaschige Straßennetz bis heute den Alltag und die Lebenswelt vieler Menschen. Für viele war der wachsende Wohlstand in den Nachkriegsjahrzehnten vor allem an immer größe­ren und schnelleren Autos abzulesen. Das Auto beeinflusste auch die Raum- und Stadtplanung. Im Zuge des Leitbilds einer „autogerechten Stadt″ in den 60er und 70er Jahren wurden viele Straßenbahnnetze demontiert, von denen einige heute mit großem Aufwand wieder aufgebaut werden. Erste Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Autos kamen in den 70er Jahren mit der ersten Ölkrise auf: „Wenn der Scheich es will stehen alle Räder still“ titelte der Spiegel am 25.11.1973 zum ersten autofreien Sonntag.

Ausgerechnet wenige Monate nach dem Höhepunkt der Ölkrise startete der ADAC 1974 unter dem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ eine Kampagne gegen ein Tempolimit auf Autobahnen. Damals wurde nicht nur das Benzin knapp und teuer, auf deutschen Autobahnen starben jährlich auch mehr als 20.000 Menschen (2012: 3600 Verkehrstote). Das Thema Tempolimit auf Autobahnen oder in Wohngebieten ist immer noch aktuell, aber die Diskussion verläuft heute etwas differenzierter. Dennoch sind diese und andere kontroverse Themen (Umweltzonen, Parkplatzbewirtschaftung etc.) rund ums Auto insbesondere in Deutschland emotional und interessenpolitisch stark aufgeladen und gelten für viele sogar als Tabuthemen.

Das Symbol für verkehrspolitische und technische Fehlplanung ist bis heute der aus Steuergeldern finanzierte Prototyp des von Siemens und ThyssenKrupp entwickelten Transrapid, einer 1979 in Betrieb genommene Magnetschwebebahn mit eigenem Fahrweg. Bahn und Transrapid lassen sich also nicht direkt vernetzen. Der Transrapid sollte mit Geschwindigkeiten von bis zu 500 Kilometern pro Stunde eine Alternative zu Inlandsflügen sein. Im Regelbetrieb kommt die Technik bisher nur in Shanghai zum Einsatz.

Ungeachtet kontroverser Diskussionen zur verkehrspolitischen Tragfähigkeit ist das Konzept in Deutschland bis 2012, fünf Jahre nach einem Unfall mit 23 Todesopfern auf der Versuchsstrecke im Emsland, staatlich gefördert worden. Danach hat die Industrie die Weiterentwicklung faktisch eingestellt. Neben den immensen Kosten ist der Transrapid verkehrspolitisch vor allem daran gescheitert, dass der ICE zu schnell und das Flugzeug zu preiswert geworden sind. Medien und Journalisten haben das Thema damals eher unter technischen und industriepolitischen Gesichtspunkten behandelt. Die Bedeutung für die Mobilität in Deutschland und die Lehren aus dem Scheitern des Transrapids sind kaum thematisiert worden.

Während die Politik in Deutschland und Europa heute darüber streitet, wie der durchschnittliche Spritverbrauch am besten gesenkt werden kann werden kann, hatte Greenpeace schon 1996 ein Auto mit drei Litern Verbrauch vorgestellt. Das Sprit­sparauto SmILE (Small, Intelligent, Light, Efficient) ist ein modifizierter Serienklein­wagen (Renault Twingo). Ähnlich wie beim ersten FCKW-freien Kühlschrank sollte SmILE der Öffentlichkeit und der Automobilin­dustrie die Machbarkeit sparsamer Autos verdeutlichen. Beim Kühlschrank funktionierte das – beim Auto nicht.

Globale Aspekte des Themas

Weltweit betrachtet gibt es im Bereich des Autos noch viele wenig beachtete und interessante Themenfacetten. Im Jahr 2002 gab es noch rund 590 Millionen Autos, inzwischen hat die Zahl der weltweit zugelassenen Pkw die Milliardengrenze überschritten. Auch wenn Schwellenländer wie China und Brasilien schnell aufgeholt haben, gibt es nach wie vor eine sehr ungleiche Verteilung der Kraftfahrzeuge. Noch stärker geht die globale Entwicklung im öffentlichen Nahverkehr ausei­nander: Weite Landstriche Afrikas sind verkehrstechnisch nach wie vor kaum erschlossen. Gleichzeitig ersticken Megastädte wie Mumbai, Jakarta oder Delhi (alle mehr als 20 Millionen Einwohner) an ihrem Autoverkehr. Und die Nachfrage wächst – wer es sich leisten kann, der möchte Auto fahren. Schätzungen gehen von weltweit 2,7 Milliarden Autos bis 2050 aus, sofern es dann noch genügend bezahlbaren Kraftstoff gibt.

Andrea Reidl schildert in ihrem ZEIT-Blogeintrag vom 23.8.2013 „Wie ‚Madam Bicyle‘ fürs Radfahren in Uganda wirbt“, wie die Stadtplanerin und Dozentin Amanda Ngabirano für eine neue Einstellung zum Radfahren in Ugandas Hauptstadt Kampala kämpft: weg vom Arme-Leute-Fahrzeug hin zum schnellen Verkehrsmittel der Zukunft. In Kampala ist der Anteil des Autos am Gesamtverkehr zwar noch relativ gering. Trotzdem sind die Straßen bereits heute zu Stoßzeiten völlig überlastet. Ngabirano hat in den Niederlanden studiert und macht sich für eine nachhaltige Mobilität stark, auch um dem alltäglichen Verkehrskollaps zu begegnen.

Sie möchte erreichen, dass die 79 Prozent der Menschen, die heute zu Fuß gehen oder bereits Rad fahren, aufs Rad umsteigen oder dabei bleiben – selbst wenn sie sich ein Auto leisten könnten. Zusammen mit der African Bicycle Organization hat sie den ersten autofreien Tag in Kampala organisiert. Während das Interesse an Autos in diesen Ländern steigt, sinkt die Begeisterung für umweltschonende Fahrzeuge. So wie in China, wo immer mehr Menschen mit dem Auto fahren, während die Bedeutung des Fahrrads stetig abnimmt.

Bambus-Fahrrad aus Ghana

Ein anderes Beispiel für die globale Dimension des Fahrrads als Verkehrsträger ist der Beitrag im ARD-Weltspiegel „Ghana: Fahrräder aus Bambus. Nachhaltiges in Afrika – auch für Europa.“ Dazu der Autor Norbert Hahn (ARD Nairobi):

„Eine pfiffige Idee: Im Norden Ghanas wächst Bambus, in der Hauptstadt Accra stellen kluge Handwerker Fahrrad-Rahmen aus Bambus her. Das gibt vielen Menschen in Ghana ein bezahlbares Fortbewegungsmittel, schont die Umwelt und das Material hat sogar Vorteile gegenüber Metallrahmen. Mit Hilfe einer österreichischen Firma werden inzwischen europäische Qualitätsstandards erreicht – und Rahmen bis nach Europa exportiert.“

Diese wunderbare „Bamboo Bike-Geschichte“ könnte auch als journalistisches Muster für Storytelling im Print dienen.

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