In einer Serie veröffentlichen wir Kommentare der Lehrredaktion „Sternenkreis“, die im aktuellen Sommersemester 2022 zu Europa und der Ukraine-Krise arbeitet. Die Studierenden haben einen Kommentar zur Frage verfasst, ob und wie Deutschland das russische Gas boykottieren soll. Sehr unterschiedlich sind die Meinungen – und Argumente. Folge 2: Tatjana Schönwiese: „Ob Artensterben oder Kriegsverbrechen: Es braucht einen Lieferstopp“
Klimakrise. Dieser Begriff ist in vielen Köpfen schon fast in Vergessenheit geraten. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine überschattet momentan alles, was vor dem 24.02.2022 noch ganz weit oben auf der Agenda der Welt stand. Der Ukraine-Konflikt bringt nicht nur viel Leid und Betroffenheit mit sich, sondern auch die Erkenntnis: Wir müssen raus aus russischem Öl, Gas und Kohle. Doch wie realistisch ist ein so plötzliches Öl- und Gasembargo?
Seit Beginn des Krieges wurden viele Sanktionen gegen Russland beschlossen. Doch vor allem mit Sanktionen gegen russisches Gas tut sich der Westen schwer. Wirtschaftsminister Robert Habeck rief Ende März die Frühwarnstufe im Notfallplan der Energieversorgung aus und machte sich daraufhin weltweit auf die Suche nach Alternativen zu russischem Öl und Gas. Fündig wurde er unter anderem in Katar. Doch ist eine Energiepartnerschaft mit einem Land, das Menschenrechte zutiefst verachtet die Lösung? Definitiv nicht!
Öl und Kohle aus Russland lassen sich vergleichsweise leicht ersetzen. Hier kann Vieles über den Weltmarkt geregelt werden, da auf andere Lieferanten zurückgegriffen werden kann. Bei russischem Gas ist dies mit einem Importanteil von 55 Prozent deutlich schwieriger. Immerhin konnte die Bundesregierung diesen Anteil nun schon auf 35 Prozent herunterfahren. Bis Sommer 2024 soll dieser auf zehn Prozent sinken.
Weiterer Gas-Import aus Russland nicht vertretbar
Vielen Kritikern ist dieses Ziel nicht ambitioniert genug, da man der Bundesregierung vorwirft, mit jedem Euro für russisches Öl und Gas den Krieg mitzufinanzieren. Ja, Russland hat seine eigene Notenbank und kann sich somit seine Rubel auch einfach selbst drucken. Und ja, die russische Rüstungsindustrie wird oft als autark bezeichnet. Aber was ist es für eine Doppelmoral der Bundesregierung, einerseits schwere Waffen an die Ukraine zu liefern und immer wieder Betroffenheit und Solidarität mit dem Land auszusprechen – und andererseits weiterhin Energiezahlungen an Putin zu senden? Wie schon unser ehemaliger Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte: „Man verhandelt nicht mit Terroristen.“ Und Putin ist in diesem Szenario ganz klar der Terrorist, der sein friedfertiges Nachbarland und Brudervolk angegriffen hat.
Ganz klar ist: Deutschland muss langfristig auf russisches Gas verzichten! Allein schon aus Solidarität mit der Ukraine. Dazu kommt, dass es Putin mehr treffen würde, wenn wir jetzt gleich aus russischem Gas aussteigen. Wir müssen den Gas-Geldhahn abdrehen! Je früher, desto besser, damit Russland nicht die Möglichkeit bekommt, nach anderen Abnehmern zu suchen. Und wer versichert uns denn, dass Putin nicht bald von sich aus den Gashahn ganz Richtung Deutschland zudreht, so wie es in Polen und Bulgarien der Fall war? Bereits jetzt fließt viel weniger Gas nach Deutschland, die Pipelines werden repariert, mit unklarem Ausgang.
Kurzfristige Alternativen
Bei einem sofortigen Gasembargo würden enorm hohe Kosten auf unser Land zukommen. Doch es ist nicht unmöglich, dies zu bewältigen. Ein sofortiger Verzicht auf russisches Gas könnte durchaus von unserer Wirtschaft aufgefangen werden. Bereits Anfang März verkündeten Wissenschaftler der Nationalen Akademie der Wissenschaften „Leopoldina“, dass es für die deutsche Volkswirtschaft „handhabbar“ sei, auf die Auswirkungen eines kurzfristigen Lieferstopps für Erdgas aus Russland zu reagieren.
Mit Ersatzlieferungen aus Ländern wie Norwegen oder einem kurzfristigen Umstieg auf europäische Kapazitäten von LNG kann ein sofortiger Gasausstieg überbrückt werden. Laut der Deutschen Welle haben Ökonomen außerdem berechnet, dass ein Importstopp von russischem Gas das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um bis zu drei Prozent einbrechen lassen. Zum Vergleich: Im Corona-Lockdown-Jahr 2020 war die deutsche Wirtschaft um knapp fünf Prozent eingebrochen.
Wichtig ist natürlich, dass jetzt sofort der Ausbau der erneuerbaren Energien startet. Nicht zuletzt wegen der Energiewende. Wenn wir die Ziele des Pariser Klimaabkommen erreichen wollen heißt es handeln – und das lieber früher als später.
Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen
Es ist furchtbar, was gerade in der Ukraine passiert. Und es ist furchtbar, was mit unserem Planeten passiert. Warum also nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen? Raus aus russischem Gas und endlich die Energiewende antreiben, von der in unserem Land schon so lange die Rede ist. Ja, die Kosten dafür dürften hoch sein, doch wir können es uns ohnehin nicht aussuchen. Wir müssen handeln. Für die Ukraine und für unsere Umwelt.
Es gilt zu hoffen, dass irgendwann wieder Frieden in der Ukraine einkehrt, doch dann stehen wir direkt vor der nächsten Krise: der Klimakrise. Auch wenn diese momentan in Vergessenheit zu geraten scheint, ist sie immer noch das größte zu lösende Problem unseres Jahrhunderts. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt für einen Wandel in unserem Land als jetzt. Egal, was es kostet!