Von Mirko Bonné
Das schmale Wasserband, das unter
Falschen Akazien und Eschen hindurch,
zumeist aber älteren Birken, in denen Enten
und stumm davonstürzende Blässhühner leben,
riechend nach dem Morast der stillen alten Wälder
von Stormarn und Holstein, hinunter nach
Hamburg geflossen kommt, das trägt
den Namen Alster und ist und war
immer Fluss. Zu den zwei Seen
in der Mitte der großen Hansestadt
wurde er erst, als ein Müller auf Geheiß des
vom Kreuzzug ins Heilige Land zurückgekehrten
Adolf III. das Flüsschen aufstaute mit dicken Dämmen,
die sogar den Elbestrom zum Erliegen gebracht
hätten. Da wuchs dann wohl ein Nordmeer
inmitten der hölzernen Stadt, das ganze
Holsteiner Wasser der Wöddelbek,
Rönne, Wischbeck und Lankau,
von Sielbek und Tangstedter
Mühlenbach floss und
floss nicht ab, blieb
nicht nur stehen, das
unbarmherzig nach- und
immer noch nachströmende
Element wurde binnen Wochen
heillos-unaufhaltsam größer und
breiter, bis erst die Außen-, dann die
Binnenalster (abgetrennt erst viel später)
zwei heute türkisgrüne und morgen türkisblaue,
fast immer aber von Westwinden aufgeraute
Seen wurden, von dichten Röhrichtgürteln
eingefasst und von den Leuten geliebt
schon länger als seit achthundert Jahren.
So schlängelt sie dahin, die dunkel funkelnde
Wassernatter, vorbei an Sträuchern, an Büschen
und Wegen, in das rotastige Uferdickicht. Und
ist vollkommen lautlos. Ein Geriesel, leise
rollendes Zischeln ist schwach zu hören,
wenn sie Holz im Maul hat, am Grund
Steine, mitgeschwemmte Styroporplatten
von einer Baustelle irgendwo oder ein
schütteres Brombeergestrüpp, das
ihr im Weg war und sie kurz mal
mit sich reißt, als würd da die
Winteralster sagen, dass ja keiner
sterben muss, der spielen kann. Schwarz
und einen halben Mann höher ist sie
während einer Überschwemmung.
An den Weihnachtsfeiertagen 2014
ergossen sich nach wochenlangem
Starkregen über der Feldmark und
den letzten Fetzen von Laubwald
zwischen Kaltenkirchen, Bad
Oldesloe und Duvenstedt
die sonst so idyllisch anmutenden
Alsternebenflüsse mit kaum je gekannter
Macht in den Fluss und verwandelten ihn binnen
Stunden in ein unabschätzbares Strömen, das
Sandsackbarrikaden notwendig machte zum
Schutz der Reihenhaussiedlungen und
zahllose Schaulustige auf die nicht länger
an Ort und Stelle befindlichen Alsterlaufufer
schwemmte ganz wie, Zyniker sagten: Treibholz.
Die Wucht von mehr als dreihundert übereinander-
gestellten Tanklastwagen hatte ein jeder der bedrohlich
stumm sich vorüberwälzenden schwarzen Wassermeter, so
errechnete es irgendein Mensch. Auen, Spielplätze,
Ufergehölze, die Wege und viele Straßen,
auch Brücken, Grundstücke, Stege,
ein großer Schuppen am Fuß des
Bahndamms für weiß Gott was
für lang vergessenen Schrott
gingen unter und versanken
für Tage und für Wochen.
Kinder fragten, ob das
Wasser denn jetzt so
bliebe, so hoch, so dunkel
und so, so böse. Ja, sagte ich
zu einem kleinen Mädchen
mit einer Augenklappe,
so wird es von nun
an wohl immer
bleiben. Tja.
Die Welt, sie
wird schwarz.
Und der Nachbar,
der mit seiner bei ihm
untergehakten Gattin und dem
unsichtbaren Hund auf eine Alster-
biegung blickte, wo sonst der Fluss um
die Kurve kam und sein goldbraunes Funkeln
ans Ufer schleuderte, er beäugte die albtraumhafte
Wasserunermesslichkeit und sagte tonlos, nie
in seinem Leben, seit er hier als Schüler
Boote habe segeln lassen, sei ihm
Derartiges an der Alster untergekommen,
nie habe es das schon mal gegeben, nicht mal im
Traum, wo alles möglich sei, sei das möglich gewesen.
Schnell, dass die hin und her flitzenden Pupillen
ihm gar nicht folgen konnten, rollte der Fluss
unter der Fuhlsbütteler Eisenbahnbrücke
hindurch südwärts auf die Freie und
Hansestadt zu. Drei Plastikkanister
sah ich und stellte mir ein Floß vor, das
sich damit bauen ließe. Hochwasser, sagte
der verdutzte Nachbar. Überschwemmungen.
Die habe es ja immer gegeben, ob sommers,
winters, im Herbst oder in Sonderheit im
Frühling, sobald die Schneeschmelze
Stormarn heimsuche. Jedoch das hier,
diese schwarzen Wassermassen,
so einen Schmodderpark,
nie, wirklich, nein.
Vorbei am Rödingsmarkt
und an der Herrlichkeit fließt die
in steinerne Böschungen gezwängte
Alster und mündet zwischen Hamburger
Neustadt und dem Portugiesenviertel
in die Elbe. Sechs Stunden, und
Dampfer, Frachtschiffe und Tanker
erreichen auf dem tief ausgebaggerten
Strom die See. Die drei Kanister, ein Floß,
das nie gebaut werden wird, da ich weder
ein Tom Sawyer bin noch ein Huckle-
berry Finn und mein liebster Fluss
nicht der Mississippi ist, sondern ein
Flüsschen, an dem ich oft stehen bleibe,
um aufs Wasser zu blicken und nachzudenken
über den Sinn von Gedichten, diese drei erbarmungs-
würdigen leeren Plastikbehälter treiben für
Wochen von der Eisenbahnbrücke bis
ins brackige Elbwasser zwischen
St. Pauli, Finkenwerder und
Glückstadt. Ihr Plastik, gegossen,
geformt, ausgestanzt und verleimt etwa in
einer Fabrik in Hangzhou, ehe es mit Millionen
baugleicher milchweißer Kanister an Bord eines
Containergiganten nach Hamburg verschifft wurde,
benötigt, ohne zerrieben zu werden, an die 850 Jahre,
bis es sich zersetzt und von der Erdoberfläche verschwindet,
so lange, wie mitten in Hamburg jetzt schon die beiden
Alsterseen liegen. Obgleich für Plastik wohl
dasselbe gilt wie für die Seele. Ein
endgültiges Verschwinden,
nein, das gibt es nie.
Arne Rautenberg aus Kiel
verwandelt mit einem Gedicht
in seinem Band „Seltene Erden“
die Plastikverseuchung der Meere
in Kunst, und zwar in seine, wofür
er sich bedankt (bei den Gezeiten, der
Wellenbewegung und dem UV-Licht, aber
auch bei Plankton und den großen Meeres-
wirbeln), dafür, ein Künstler zu sein, der alle
Kontinente umspielen dürfe. Es lebe die Kunst.
Es lebe die einzig ewigbeglückende künstlerische
Freiheit! Das heißt auch, alles will Kunst sein,
so wie alles, was irgend lebt, frei ist. Plastik
war im Jahr 1800 für Friedrich von Hardenberg, der
sich Novalis nannte, der Neuland Rodende, ein Begriff
der Ästhetik, als er schrieb, Musik, Plastik und Poesie
seien unzertrennliche Elemente, seien in jedem freien
Kunstwesen zusammen und nur nach Beschaffenheit
in verschiedenen Verhältnissen vereinigt.
Novalis fasste diesen Gedanken
im Burgenländischen, in Weißenfels
an der Saale, die mit der Mulde, der Müglitz
und der Vereinigten Weißeritz ein Flussland bildet,
das er liebte und wo er sein ganzes Leben verbrachte.
Alle vier Flüsse münden in den Elbestrom, und so,
bei Barby, auch die Saale, in der Novalis
als Junge schwimmen ging, nackt
und oft bis tief in die Nacht.
Zeitlebens hat Hardenberg
kein einziges Mal etwas aus Kunststoff
in Händen gehalten. Kein Wunder! Es gab ja
nichts aus Plastik, nicht den Haarreif eines winzig-
kleinen Püppchens, nirgendwo auf der vom Rauschen
der nicht enden wollenden Wälder, der Stille, dem Schallen
der Glocken und dem Gestank der Kloaken geprägten
ganzen alten Welt. Joghurtbecher, Becherdeckel,
Uhren, Folien, Einkaufsbeutel, Tüten in allen
Farben, Größen und Formen, Spielzeug
in allen Formen, Größen und Farben,
Feuerzeuge, Diskettenhüllen, Stifte,
Automatten, Einmalrasierer, Radkappen,
Kämme, Klammern, Kugelschreiberhüllen und
Hüllen für Hüllen, Flaschen, Flaschenverschlüsse,
Auto-, Traktoren-, Lastwagen- und Mähdrescherreifen,
Näpfe, Teller, Bestecke, Brottüten und Kartenhüllen,
Kartenhüllenhüllen, Spiegelrahmenhüllen, Kanister,
Wegwerfstühle, Wegwerfschalen, Wegwerftische,
Stecker, Steckdosen, Wegwerfsteckdosenleisten,
Brillen, endlose Strecken an Kabeln, Kabeln,
in Taschen, in Säcken und Beuteln, gefüllt
in Wegwerfhüllen, Wegwerfhüllenkästen,
nichts, gar nichts, nicht das kleinste Teil
davon gab es auf der noch unzerstörten,
unverhüllten, unverkabelten stillen Welt,
als Novalis in der Saale schwamm und
nicht über Fettverbrennung, Muskel-
aufbau oder Bruststraffung nachdachte,
sondern vielleicht darüber, ob der Busen wohl
die in Geheimnisstand erhobene Brust sein könnte
und die Physik nichts als die Lehre von der Phantasie.
Zum Großteil verschwindet der von der Elbe in die Nordsee
gewälzte Plastikmüll dort in den dunklen Abgründen
des Meers. In Sedimenten des lange verheerten
Grundes finden sich in unfassbaren Mengen
winzigste Mikroplastikteile, eine Anzahl meist
faserförmiger Partikel, die, laut dem Fachblatt
„Open Science“ der britischen Royal Society,
um das Zehntausendfache höher liegt als die jener
größeren Plastikbruchstücke, die in stark verschmutzten
Wasserwirbeln dahintreiben und sich zu wahrhaften
Müllkontinenten, größer als Mitteleuropa,
zusammengebacken haben. Wäre jeder
Quadratkilometer des Meeresbodens
ein See, so wären sie alle, diese Seen,
verstopft, ja man möchte sagen: zugekackt
mit Billiarden Plastikfasern bis hinauf
in die höchsten Uferbaumwipfel.
Überall auf der Erde, ob am Nordpol,
im Schwarzen, Roten oder Toten Meer,
in der Karibik oder Antarktis, kein größeres
Gewässer, keine Küste und kein Strand ohne
Plastikrückstände, schreiben Forscher in London
um Lucy Woodall vom Natural History Museum,
vor dessen Lärmschutzfensterfronten fischleer,
begradigt und verpestet die Themse schwappt.
In den sieben Weltmeeren schwimmen nach
Berechnungen beinahe zweihundertsiebzig-
tausend Tonnen Plastikmüll, eine horrende
Zahl, die jedoch nachgerade absurd, weil
rätselhaft gering ist, vergleicht man damit
die galaktische Menge an Kunststoffmüll,
die wir alle tatsächlich ins Meer verklappen,
nämlich geschätzte sechseinhalb Millionen
Tonnen, denn das wahre Gewicht
des Pfropfes, mit dem wir
die Welt verstopfen,
wer will es auch berechnen.
Wo ist er hin, der ganze Wohl-
standsdreck, muss man sich fragen.
Bloß ein kleiner Teil des Mülls scheint
in Form sichtbarer Partikel an der Wasser-
oberfläche zu schwimmen. Größere brechen
im Gang der Wellen entzwei, werden zerrieben,
zerschreddert, unter anderem durch UV-Licht,
zu Winzigteilchen, die kaum auszumachen sind.
Lagern sich Algen oder andere Kleinlebewesen
auf ihnen ab, so gehen sie unter und sinken
nicht anders als Schiffe, Flugzeuge oder ein
Toter ins Dunkel hinunter auf den Grund.
Lucy Woodalls Team analysierte zwölf
Sedimentproben vom Meeresboden, die
während Forschungsfahrten im Mittelmeer,
im südwestlichen Indischen Ozean, aber
auch im Nordostatlantik zwölf Jahre lang
bis 2012 genommen worden sind. Auch
vier Korallenproben wurden unterm
Mikroskop und im Infrarot-Spektro-
meter untersucht. In allen Sediment-
proben fanden sich Mikroplastikpartikel,
meist faserförmig und gewöhnlich zwei
bis drei Millimeter lang, oft aber unter
bloß einem Zehntelmillimeter breit.
Die Proben enthielten im Durch-
schnitt dreizehneinhalb Teilchen
in je fünfzig Millilitern Flüssigkeit.
Mehr als die Hälfte der Partikel war
aus Viskose, was kein Plastik, sondern
eine Kunstfaser ist auf Zellulosebasis, die
in Zigarettenfiltern und zunehmend Kleidung
Verwendung findet. Fische, Rochen, Haie, Wale
und Schildkröten haben keine Verwendung dafür,
für sie ist Viskose Gift, an dem sie zugrunde gehen
wie jeder, der nichts als Plastikfraß mehr für sich findet.
Das zweithäufigste in allen Meereslebewesen überall
auf dem Globus gefundene Material war Polyester,
ja, man kann wohl von Polyesterfischen reden,
Polyesterwasserschlangen, Polyesteroktopussen.
Und vielleicht spricht man, werden die Teilchen
erst kleiner und kleiner und kleiner zerrieben,
bis sie mit Meerwasserdampf kondensieren
und aufsteigen in die Luft, von Gewölk aus
Polyester oder Viskose, den Kunststoffwolken.
Der geringen Probenanzahl wegen seien Vergleiche
von Häufigkeit und Zusammensetzung der Sedimente
unmöglich. Faserförmige Winzigstpartikel aber kommen
anscheinend überall in der Tiefsee vor, in Sedimenten
wohl zehntausend Mal häufiger als in kontaminierten
Meereswirbeln. Laut Hochrechnungen enthält allein
ein Quadratkilometer Sediment der Tiefseegebirge
im Indischen Ozean rund vier Billiarden Plastik-
fasern. Und Untersuchungen der Tiefseetäler,
die Senke für den Plastikmüll der ganzen Welt,
gibt es noch nicht. Dort herrscht die finsterste Nacht.
Lichtlos ist es und sternenleer. Nichts funkelt. Dennoch
atmet selbst da die Riesenwelt der rastlosen Gestirne,
die im blauen Ozean des Himmels schwimmen.
Der Text erschien bereits im Rahmen des Projekts „globalweatherstations“, bei dem Literaten wie Mirko Bonné sich dem Klimawandel annähern.