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Träges Wasser, trübe Flüsse, arme Nidda: Wie Flüsse leiden und genesen können

Die Nidda bei Bad Vilbel

Von David Wünschel

Die hessische Stadt Bad Vilbel hat zwei Seiten: eine saubere und eine dreckige. Die saubere Seite ist für jedermann sichtbar. Bad Vilbel ist die Stadt des reinen Wassers, in der Hassia schon seit mehr als 150 Jahren Mineralwasser abfüllt. Sie ist berühmt für ihre vielen Quellen, die Innenstadt ist voller Brunnen, es gibt sogar ein Brunnenmuseum.

Doch es gibt auch dreckiges Wasser in Bad Vilbel. Das ist zwar sichtbar, aber nicht offensichtlich. Erst der Blick unter die Oberfläche verrät es. Denn die Nidda, die Bad Vilbel in zwei Hälften teilt, ist in einem schlechten Zustand. Auch, weil die Bad Vilbeler Kläranlage Medikamentenreste in den Fluss einleitet. Und deshalb lässt sich ausgerechnet in der Stadt der Quellen wie unter einem Brennglas ablesen, warum es um die deutschen Gewässer so schlecht bestellt ist.

Mehr als 700 chemische Substanzen

Ein Ortsbesuch bei strahlendem Sonnenschein. Nördlich von Bad Vilbel schlängelt die Nidda sich zwischen Wiesen hindurch und glänzt grünbraun wie die Haut einer Eidechse. Zwei Männer legen ihre Räder ins Gras, stellen sich ans Ufer und werfen die Angeln aus. Wenig später zappelt schon ein silberner Fisch am Haken. Hier scheint es der Nidda gutzugehen.

Der Eindruck täuscht. Denn einer Einschätzung der Bundesregierung zufolge befindet sich die Nidda in einem “unbefriedigenden” oder “schlechten” Zustand – die beiden untersten Werte auf einer Skala von eins bis fünf. In der Nidda lassen sich mehr als 700 chemische Substanzen nachweisen, die von Äckern, aus Kläranlagen oder sogar aus der Luft stammen. Einige von ihnen führen bei Fischen zu Leber- und Nierenschäden. Es gibt kaum einen Flussabschnitt, an dem die Ökosysteme nicht unter dem Menschen leiden.

Der Bundesregierung zufolge sind mehr als die Hälfte der deutschen Flüsse in einem ähnlich schlechtem Zustand. Nur 6,6 Prozent erreichen einen guten ökologischen Zustand. Die Einschätzung basiert auf einer Direktive, die im Jahr 2000 von der EU verabschiedet wurde und der die verstaubte Brüsseler Bürokratie bereits anzuhören ist: der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie.

Ihr zufolge ist ein Fluss in einem guten Zustand, wenn die Ökosysteme vom Menschen weitgehend unbeeinflusst sind und sich im Wasser nur wenige Stoffe befinden, die dort nicht hingehören. Bis 2027 sollen alle europäischen Gewässer diesen Status erreichen. Experten zufolge ist das ein utopisches Ziel. Trotzdem suchen sie nach Möglichkeiten, um die Vorgaben der Wasserrahmenrichtlinie zu erfüllen. Wie an der Nidda. Viele Dutzend Fachleute forschten hier von 2015 bis Anfang des Jahres – mit eindeutigen Ergebnissen.

Ganzheitlicher Ansatz

Einer der Forscher ist Jörg Oehlmann. In weißem Hemd und beigen Sneakers empfängt er in seinem lichtdurchfluteten Büro im Biologicum der Goethe-Universität Frankfurt. Oehlmann ist Professor für aquatische Ökotoxikologie und Leiter von “NiddaMan”: Ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Projekt, in dem Fachleute aus zwölf Institutionen der Frage nachgingen, was die relevanten Belastungsfaktoren in Gewässern sind und wie man ihnen begegnen kann.

Das Besondere an “NiddaMan” ist, dass von Beginn an ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt wurde. Drei Jahre lang arbeiteten Wasserbauingenieure, Kläranlagenbetreiber, Umweltanalytiker und Naturwissenschaftler Hand in Hand. Sie nahmen Wasserproben, untersuchten Bachflohkrebse und fahndeten nach besonders schädlichen Substanzen. Sie fanden heraus, dass Maßnahmen wie Renaturierungen und bessere Abwasserreinigung miteinander einher gehen müssen, um die Vorgaben der EU zu erfüllen. Und dass sie an strategisch wichtigen Knotenpunkten umgesetzt werden müssen, um eine möglichst große Wirkung zu entfalten.

“Kläranlagen wie an der Perlenschnur”

Ein Paradebeispiel dafür ist die technische Aufrüstung von Kläranlagen auf die sogenannte vierte Reinigungsstufe, die Substanzen wie Pflanzenschutzmittel- oder Medikamentenreste aus dem Abwasser filtern kann. Diese Aufrüstung kostet zwar viel Geld, ist aber vor allem dort sinnvoll, wo Flüsse zu einem Großteil aus geklärtem Abwasser bestehen oder wo das Abwasser besonders belastet ist – so wie in Bad Vilbel.

Denn in die dortige Kläranlage leitet die ansässige Filiale des Pharmakonzerns Stada ihr Abwasser ein. Darin enthalten ist der in Schmerzmitteln oder Rheumasalben vorkommende Stoff Diclofenac. Der Grenzwert für Diclofenac liegt bei 50 Nanogramm pro Liter, in der Nidda beträgt die Konzentration bis zu 500 Nanogramm pro Liter.

Die Bad Vilbeler Kläranlage wenige Meter neben der Nidda

Die Forscher von “NiddaMan” haben die Auswirkungen von Diclofenac auf Bachflohkrebse untersucht. Das Ergebnis: In Zonen mit hoher Diclofenac-Konzentration können die Laubfresser kaum überleben. Wenn das verrottende Laub sich im Fluss ablagert, kommt es zu Sauerstoffdefiziten. Dann können Todeszonen entstehen, in denen kein Tier mehr überlebt. “Die Kläranlage in Bad Vilbel ist ein typisches Beispiel, bei dem die vierte Reinigungsstufe Sinn machen würde”, sagt Oehlmann.

Für ihn ist heute klar, dass vor allem die Abwasserbelastung dem Fluss schadet. Ihm zufolge beträgt der kritische Abwasseranteil der Nidda rund 12 Prozent. Das bedeutet: Wenn weniger als ein Achtel des Niddawassers aus Kläranlagen stammt, könnten viele verschwundene Arten sich wieder ansiedeln und die Nidda gemäß der Wasserrahmenrichtlinie in einen guten Zustand rutschen. “Aber die Kläranlagen sind wie an einer Perlenschnur aufgereiht”, sagt Oehlmann. Der Abwasseranteil im Mündungsgebiet beträgt 30 bis 40 Prozent und kann in trockenen Monaten sogar auf bis zu 70 Prozent steigen.

Renaturierungen reichen nicht

Ein weiteres Problem sind die vielen Deiche und Wehre, die nach dem zweiten Weltkrieg als Hochwasserschutz gebaut wurden. Sie verändern die Fließgeschwindigkeit der Nidda und behindern Fische auf ihrer Wanderung zu den Laichgebieten flussaufwärts. Dadurch sei ein monotoner, unnatürlicher Lebensraum entstanden, sagt Oehlmann.

Nidda-Wehr bei Eschersheim

Doch es gibt auch gute Nachrichten. Die Nidda ist heute deutlich sauberer als vor 30 Jahren. Einige Fischarten wie Barbe, Nase und Meerforelle haben sich wieder angesiedelt. Außerdem wurde die Nidda an vielen Stellen renaturiert. Doch die Hoffnung, dass der Fluss dadurch die Vorgaben der EU erfüllt, hat sich zerschlagen. Zwar habe sich die Gewässerstruktur verbessert, aber die stoffliche Belastung sei immer noch vorhanden, sagt Oehlmann. Die Gewässer würden nur nachhaltig sauber, wenn man einen ganzheitlichen Ansatz verfolge.

Drei Burger pro Jahr

Damit ist auch der Verbraucher gemeint. Denn der trägt maßgeblich dazu bei, dass zu viele schädliche Stoffe in die Flüsse gelangen. Der Gebrauch von Chemikalien im Haushalt nimmt stetig zu. Besonders problematisch sind spezielle Hygienereiniger gegen Bakterien. Denn die schwächen nicht nur die Bakterien im Haushalt, sondern auch jene in der Kläranlage.

Den Schaden tragen hauptsächlich Tiere und Pflanzen. Aber auch der Mensch könnte früher oder später direkt betroffen sein. Denn wenn bestimmte Arten wie der Bachflohkrebs verschwinden, können Ökosysteme kollabieren. Dann ist auch die Trinkwasserversorgung bedroht. Oehlmann plädiert daher dafür, frühzeitig in eine bessere Abwasserreinigung zu investieren. In der Schweiz ist das nach einem Volksentscheid geschehen. Dort wurden 100 Kläranlagen auf die vierte Reinigungsstufe aufgerüstet. Das kostet die Bürger neun Franken pro Jahr – oder „drei Burger“, wie die Werbekampagne Oehlmann zufolge als Slogan angab.

Die Nidda mündet in Frankfurt in den Main. Dort beträgt der Abwasseranteil bis zu 70 Prozent.

Viel Geld ist das nicht, wenn es den Flüssen dafür deutlich besser geht. Auch in Deutschland wird die neue Technik in einigen Kläranlagen getestet. Ein maßgeblicher Grund dafür ist die Europäische Wasserrahmenrichtlinie, die Oehlmann als „Glücksfall“ bezeichnet. „Früher waren wir blind bei der Beurteilung des ökologischen Zustands“, sagt er. „Heute ist der Blick auf die Probleme geschärft.“

Denn die Richtlinie enthält Kriterien, die vorher bei der Beurteilung der Wasserqualität keine Rolle spielten. Die Nidda wird sie wohl auch bis 2027 nicht erfüllen. Dazu ist die Belastung durch den Menschen zu hoch. Doch “NiddaMan” hat Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich die Nidda und andere Flüsse wieder erholen können. So sauber wie das Hassia-Mineralwasser werden sie zwar niemals sein. Aber sauberer zu sein als heute ist allemal drin.

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