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Wer ernährt die Welt? Hunger, Acker, Armut – neue Fragen für den Journalismus

Abfotografie eines National Geographic Cover
Ernährungs- und Agrarthemen haben medial zugenommen. Doch die Berichterstattung hat klar Defizite, sagen Fachjournalisten (Quelle: Bernhard Benke/ CC BY-NC-SA 2.0)
Ernährungs- und Agrarthemen haben medial zugenommen. Doch die Berichterstattung hat klar Defizite, sagen Fachjournalisten (Quelle: Bernhard Benke/ CC BY-NC-SA 2.0)

Von Wilfried Bommert und Tanja Busse

Hatten wir nicht schon längst Abschied genommen vom Welthunger, von dem Rumgemäkel am Essen der Deutschen, dem zu fett, zu viel, zu süß? War nicht alles in bester Ordnung? Waren die Redaktionen, die sich damit beschäftigten, nicht längst überflüssig geworden? Sie waren es. Spätestens in den 1990er Jahren waren diese Themen tot. Aber offensichtlich nur scheintot.

Mit dem Erfolg von Büchern wie „Die Suppe lügt“ von Hans-Ulrich Grimm und der Schlagzeile „Vergiften uns die Bauern?“ begann eine neue Epoche der Berichterstattung über Lebensmittelskandale: BSE im Rind, Dioxin im Ei, Antibiotika im Hähnchenfleisch. Der Blick in die Mastfabriken zerstörte das von der Agrarindustrie sorgsam gepflegte Bild vom guten alten Bauernhof.

Wer wollte Fleisch von diesen dahinvegetierenden Kreaturen essen? Wer wollte eine Landwirtschaft, die das Grundwasser mit ihrem Abfall, mit ihrer Überdosis an Dünger und Chemikalien vergiftete? Wer konnte die Massentierställe rechtfertigen, die den bäuerlichen Betrieben das Leben schwer machten und ihnen die Existenz stahlen?

Weltmarkt verschärft den Hunger

Seit der Jahrtausendwende werden die Stimmen immer lauter, die eine Wende in der Agrar- und Ernährungsindustrie fordern – und die Fakten immer gewichtiger, die eine Wende begründen. Und auch beim Thema Welternährung stellt sich Zweifel ein an der Zuversicht, der Hunger werde mit dem Siegeszug der Globalisierung schon vom Globus verschwinden. 2006 – also im Jahr vor der Krise – hungerten nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO noch immer 800 Millionen Menschen.

Seit 2007 ist jedoch klar: Der Hunger, der nie fort war, meldet sich mit Macht zurück. Innerhalb weniger Wochen steigen die Weltmarktpreise für Weizen, Reis und Mais um bis zu 300 Prozent. Die Zahl der Hungernden erreicht 2008 die Eine-Milliarde-Grenze. Der viel gepriesene Weltmarkt war nicht in der Lage, die Welt zu ernähren, im Gegenteil, er verschärfte den Hunger.

Seit Jahren bröckeln die Fundamente der Welternährung: Der fruchtbare Boden verschwindet, das Wasser wird knapp, die Zahl der Arten ist auf einen krisenanfälligen Bestand geschrumpft. Das ehemals verlässliche Klima weicht einer Achterbahn von Hitze und Kälte, Überschwemmung und Dürre. Die Treibstoffe der industriellen Landwirtschaft, Rohöl und Dünger, gehen ihrem Ende entgegen.

Bedenkliche Knappheiten

Die Produktion beginnt zu schwächeln, gleichzeitig verlangt die wachsende Weltbevölkerung mehr Reis und Brot, die Fleischindustrie fordert immer mehr Futterflächen, und auf den Äckern der Welt melden sich machtvolle neue Interessenten.

Die Biosprit- und die Bio-Rohstoff ndustrie ziehen immer mehr Boden an sich, landarme aber geldreiche Staaten verlagern ihre Landwirtschaft „offshore“ und versuchen, so viel Land wie möglich an sich zu bringen. Plötzlich zeichnen sich bedenkliche Knappheiten auf den Weltmärkten ab, von denen die Kapitalmärkte längst Wind bekommen haben.

Seither spielen Lebensmittel an den Getreidebörsen eine immer größere Rolle als Spekulationsmasse. Investmentfonds steigen in Bodengeschäfte ein und investieren in Agrarkonzerne. Energiekonzerne verschaffen sich Land, um von den Subventionen für Biogas und -sprit zu profitieren und vom Ende des Rohöls. Der Kampf um die endlichen Äcker der Welt ist entbrannt.

Konfliktpotenzial wächst

Seit 2008 wurden unter dem Begriff „Landgrabbing“ Flächen in der Größe von Westeuropa verschachert, vor allem in Afrika, Südamerika und Südost-Asien zulasten der einheimischen Landbevölkerung.

Das Konfliktpotenzial wächst. Die Frage, wer ernährt wie die Welt, wandelt sich vom Ladenhüter der 1990er Jahre zum Topthema des 21. Jahrhunderts. Widerstand gegen ein „Weiter so“ formiert sich. Im Umfeld der Grünen Woche in Berlin, die über Jahre hinweg als verstaubte Veranstaltung für Lodenträger daher kam, zeigt sich der Konflikt offen.

Zehntausende gingen 2012 bereits zum zweiten Mal für eine neue Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik auf die Straße, ein breites Bündnis aus Bauern, Naturschützern, wertkonservativen Gourmets der Slow-Food-Bewegung zeigt Flagge neben den Entwicklungsorganisationen, Gewerkschaften und konfessionellen Gruppierungen und PolitikerInnen. Der Protest ist jung, das Alter der Demonstranten eher unter 50, die Aufstellung zeigt eine breite gesellschaftliche Basis – Stuttgart 21 lässt grüßen!

Vom Sparten- zum Massenthema

Ernährung und Landwirtschaft bewegen kritische Massen. Und es ist erst der Anfang. Denn die Konflikte nehmen zu. Die Folgen der XXL-Ernährung schlagen immer mehr und weltweit auf die Gesundheitskosten. Die Verschwendung in der Nahrungskette von mehr als 50 Prozent zeigt, dass mit diesem System die Welt nicht zu ernähren ist – wohl aber wäre, wenn es neu aufgestellt würde. Aber wie?

Das ist die Frage, die die Kollegen in den Redaktionen über den laufenden Ernährungsskandal hinaus immer mehr bewegt: Wer soll die Welt wie ernähren? Und diese Frage hat sich von einer technischen zu einer politischen gewandelt. Das gesellschaftliche Bewusstsein wächst, Filme, Radio- und Fernsehbeiträge und Printpublikationen erreichen einen immer größeren Kreis.

Das Thema ist auf dem Weg, sich von einem Spartenthema zu einem Massenthema zu entwickeln. Doch damit ist auch gleichzeitig ein neues Problem verbunden: Die Zahl der Journalisten, die in diesem Bereich fundierte Kenntnisse besitzen, ist in den letzten Jahrzehnten massiv geschrumpft. Als Allround-Journalist ist es ohne tiefe Recherche kaum möglich, zwischen Euphemismen der Lobbyorganisationen und Fakten zu unterscheiden.

Komplexe Zusammenhänge aufzeigen

Mit der Brisanz des Themas muss auch die Zahl der kundigen Journalisten wieder wachsen. Wir haben deshalb das Institut für Welternährung in Berlin gegründet und versuchen damit, die Berichterstattung zu der großen Frage der Welternährung der Zukunft auf eine solide journalistische Basis zu stellen.

Dabei geht es vor allem darum, den Zusammenhang zwischen der Sattheit hier in den reichen Industrienationen und dem Hunger in den ärmeren Ländern aufzuzeigen. Unser Ernährungssystem ist längst ebenso globalisiert wie der Rest der Wirtschaft, es ist unsere Nachfrage nach Palmöl, Soja und Fleisch, die den Regenwald dezimiert und Kleinbauern vertreibt. Diese komplexen Zusammenhänge muss die Berichterstattung über Ernährung ins Auge fassen, wenn sie politische Orientierung bieten will.

Der Artikel erschien bereits im Band Umwelt Europa der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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