Der Jeep schlingert schon gewaltig, weil Schlaglöcher und tiefe Spurrillen den verschneiten Waldweg durchziehen. Zudem beträgt die Sicht beträgt nur 30 Meter; Nebelschwaden wabern zwischen den Nadelbäumen und lassen die Stämme zu Silhouetten verblassen. Trotzdem beschleunigt der Mann hinter dem Steuer nochmal auf über 40 Stundenkilometer. Dann bremst er abrupt ab. Ein umgestürzter Baum, der den letzten Sturm nicht überlebt hat, versperrt den Weg. Kurzerhand lenkt der Fahrer den Wagen in den Wald und umkurvt das Hindernis. Die Räder drehen durch, dreckiger Schneematsch spritzt an die Fenster. Doch das Manöver gelingt Otto Morr, der hier um Wald-Michelbach im Odenwald jeden Stein kennt. Morr selbst beschreibt sich auch als „Waldläufer“. An einer Weggabelung stoppt er schließlich den Jeep. Den Rest muss der 61-Jährige zu Fuß zurücklegen. Zu groß ist die Gefahr, entdeckt zu werden, bevor er sein Ziel erreicht.
Morr fürchtet sich aber nicht. Denn abseits der Waldwege kann er sich ungestört bewegen, hier ist er unsichtbar für den Sicherheitsdienst. Ohne Mühe stapft er mit seinen schweren Wanderschuhen durch das Unterholz, die Geräusche schluckt der Schnee. Ab und an fallen kleine Lawinen von den schwerbeladenen Ästen und ergießen sich auf den Wald-Michelbächer. Schon nach kurzer Zeit hängen seine langen grauen Haare nass von seinem Kopf herab, der graue Rauschebart glänzt unter Eiskristallen. Mit seinem braunen Fleece-Pulli und einer dunkelgrünen Outdoorhose ist Morr aber bestens auf seine heimliche Tour im Winterwald vorbereitet.
Über eine halbe Stunde marschiert er so durch den fünfzehn Zentimeter hohen Schnee. Dann hat Otto Morr sein Ziel erreicht. Vor ihm liegt eine gut 60 Meter große Lichtung; in der Mitte ragt ein Rohr in den Himmel, daneben steht ein gelber Kran. Nach 30 Metern verschwindet die Röhre im undurchdringbaren Nebel. Wehmütig zeigt Morr auf die Baumstümpfe, die rund um die Lichtung verteilt sind: „Das Alles wurde letzten Februar gerodet. Mindestens 60 Quadratmeter Wald alleine für dieses eine Windrad.“
Lebensgefährliche Sabotage
Der Wald musste an dieser Stelle Platz machen für fünf Windkraftanlagen auf dem Berg Stillfüssel im äußersten Süden Hessens. Otto Morr sieht dabei einen ganzen Lebensraum bedroht und engagiert sich deshalb in der Bürgerinitiative „Gegenwind Siedelsbrunn“ in Siedelsbrunn, einem Ortsteil von Wald-Michelbach. Immer mehr Windkraftgegner gründen Bürgerinitiativen, auch im Odenwald. In Wald-Michelbach steht ihnen der Energieversoger und Bauherr „Entega“ gegenüber, zusammen mit dem Regierungspräsidium Darmstadt, das den Bau der fünf Windräder genehmigt hat – ein sechstes steht noch zur Debatte. Die Stimmung zwischen den Parteien ist vergiftet, zu viel ist im vergangenen Jahr passiert.
Bereits Anfang 2017, im Februar und April, drohte die Situation am Stillfüssel mehrfach zu eskalieren. Mitglieder der Bürgerinitiative Siedelsbrunn blockierten die Baustellen und demonstrierten gegen Rodungen. Polizisten mussten kommen und Blockaden auflösen. Im Laufe des Sommers bemerkten die Baufirmen dann immer wieder Sabotagen. Zuletzt buddelten Windkraftgegner sogar ein Starkstromkabel aus und kappten es an mehreren Stellen – laut Polizeipräsidium Südhessen ein lebensgefährliches Unterfangen. Wäre zu diesem Zeitpunkt bereits Strom durch das Kabel geflossen, hätten die Saboteure ihre Aktion wohl nicht überlebt. Nach ihnen sucht die Polizei, bisher erfolgslos. Und so macht sich bei dem Betreiber, der in Darmstadt ansässigen Entega, Unbehagen breit. „Manche wollen anscheinend nicht akzeptieren, dass sie in einem rechtstaatlichen Verfahren ihre persönlichen Interessen nicht durchsetzen können“, stellt Matthias Send fest, der bei Entega die Unternehmenskommunikation leitet. Es gebe viele falsche Behauptungen, der Ton sei sehr rau geworden. „Mitarbeiter vor Ort fühlten sich teilweise sogar bedroht. Diese Gemengelage hat die Situation deutlich erschwert.“
Ende des Sommers geschah dann dann die Eskalation. Mehrere Bürgerinitiativen wollten verhindern, dass die Fundamente der Windräder mit Beton gegossen werden. Ihnen gegenüber standen Polizisten aus Wald-Michelbach sowie Einsatzkräfte der Bereitschaftspolizei. Am Ende gab es einige verletzte Demonstranten. Neben physischen Schäden hatte der Windkraftkampf aber noch eine ganz andere, psychologische Dimension: ein völlig zerrüttetes Verhältnis zwischen den Betreibern und dem Regierungspräsidium auf der einen und der Bürgerinitiative auf der anderen Seite. Auch für Otto Morr gibt es seitdem keine intakte Kommunikation mit der Entega mehr. „Das waren kriegsähnliche Zustände“, erinnert er sich.
Blank ziehen gegen die Bedrohung
Durch den Wald zieht sich eine Schneise. Ein 30 Meter breiter Korridor verbindet die Baustellen der ersten und zweiten Windkraftanlage. In diesem Bereich steht kein Baum mehr, die Ränder sind von Baumstümpfen gesäumt. Erst wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind, kann der Wald an dieser Stell aufgeforstet werden. „Es ist erschreckend, wir schlimm hier in die Natur eingegriffen wurde“, seufzt Otto Morr, während er am Rande der Baustelle entlangläuft. Links von ihm liegen Rotorblätter, die nur wegen des dichten Nebels noch nicht montiert werden können, zu seiner Rechten erstreckt sich der schneebedeckte Wald des Stillfüssels.
Seit einigen Minuten wird der Waldläufer Morr bereits von einem Mann in gelber Warnweste verfolgt. Morr bewegt sich auf öffentlichem Raum und hat die Baustelle nicht betreten, handelt also im legalen Rahmen. Deswegen bleibt der Mann, der vermutlich zum Sicherheitsdienst gehört, auch auf Abstand. Während er sein Handy ans Ohr drückt, gestikuliert er hektisch und zeigt in Morrs Richtung. Dem ist die plötzliche Aufmerksamkeit zu viel, und er verschwindet wieder zwischen den Bäumen. Er hat für heute genug gesehen.
Nach einigen Minuten schweigsamen Marschierens durchbricht Vogelkrächzen die Stille. Morr hält inne. „Ein Rabe. Die mögen es, nicht gestört zu werden. In Zukunft werden wir die wohl nicht mehr hier sehen.“ Tatsächlich argumentieren die Odenwälder Bürgerinitiativen gegen die Windräder vor allem mit dem Schutz bedrohter Vogelarten und Fledermäuse. Schwarzstorch, Rotmilan und der Uhu sollen durch die Anlagen bedroht sein – wie, wo und wann genau, das geht im lauten Streit oft unter, nicht nur hier. Einem anderslautenden Gutachten der Entega schenken die Windkraftgegner in Wald-Michelbach keinen Glauben, generell misstrauen sie allen Äußerungen und Experten der Gegenseite.
Vielmehr als durch Argumenten fällt die Bürgerinitiative in Siedelsbrunn zuletzt mit besonderen Aktionen auf: Anfang des Winters lassen sechs Windkraftkrieger die Hosen fallen und entblößen ihr Hinterteil. „Entega go home“, steht auf den Pobacken geschrieben. Bereits im April geht ein Video online, in dem ein Sensenmann über die gerodeten Baumstümpfe läuft und dabei im übertragenen Sinne den Stillfüssel beerdigt. Dabei schwingt er eine Sense, die einem Windrad nachempfunden und mit einer roten, blutähnlichen Flüssigkeit bedeckt ist.
Während Otto Morr sich weiter durch das Dickicht kämpft und immer wieder von kleinen Schneelawinen getroffen wird, spricht er über seine Unzufriedenheit mit den eigenen Leuten in der Bürgerinitiative, die für ihn zu engstirnig denken. Morr ist es zuwider, dass sich manche erst mit der verfehlten Energiewende auseinandersetzen, wenn sie selbst davon betroffen sind. Vielen ginge es auch nicht um den Erhalt der Natur, sondern nur darum, selbst keinen Nachteil durch Windräder zu haben, etwa mit einem veränderten Landschaftsbild. „Die Leute sehen nicht, was in der Welt passiert, bis es vor ihnen bei der Haustür ist“, raunt Morr. „Alles wollen und nichts hergeben, das funktioniert einfach nicht.“
Schwierige Vermittlung
Auf einer Schotterpiste angekommen, richtet Morr seinen Ärger dann aber wieder gegen die Bauarbeiten: „Die kleinen Waldwege hier wurden zu breiten Straßen ausgebaut, damit die Entega ihr Material den Berg hinauf bekommt. Auch dafür wurden Bäume gerodet und Brutplätze zerstört.“ Seit die Arbeiten an den Windkraftanlagen laufen, sind einige Waldwege für die Öffentlichkeit gesperrt. Der Sicherheitsdienst überwacht jede Bewegung rund um die Absperrungen. Morr vermutet deshalb, dass da nicht alles rechtens sei. Nur die, die etwas zu verbergen haben, müssten sich mit einer Security schützen.
Eine Art Vermittlerrolle nimmt das „Bürgerforum Energieland Hessen“ der Landesenergieagentur ein. Im Auftrag des hessischen Wirtschaftsministeriums hilft dieses Programm Kommunen dabei, Energiethemen besser zu kommunizieren. Unter anderem stellt das Bürgerforum online Faktenchecks zur Verfügung, etwa zur Auswirkung von Infraschall, der von den Windrädern ausgeht und laut den Windkraftgegnern auf Dauer die Gesundheit der Anwohner beeinträchtigen soll. Florian Voigt von der Landesenergieagentur berichtet von öffentlichen und auch kontrovers besetzten Expertenpodien, die er und seine Kollegen immer wieder zu strittigen Windkraftthemen organisieren. „Die Fachleute tauschen dort Argumente aus und beantworten Fragen von Bürgern. Als Dokumentation dieser Veranstaltung entstehen dann die Faktenpapiere.“
Bei diesen Diskussionen herrsche immer eine sachliche Stimmung, ganz im Gegensatz zu den Veranstaltungen in betroffenen Kommunen, erzählt Voigt. Da habe das Bürgerfourm mit starken Emotionen zu kämpfen. „Bürgerinitiativen erstellen oft Fotomontagen von ihren Orten, in die sie Windkraftanlagen einsetzen. Diese sind dann oftmals überzeichnet, viel zu nah am Ort, viel zu hoch“, sagt der Landesexperte. Gerne würden auch Bilder von verunglückten Vögeln gezeigt oder es werde mit kindlichen Motiven gearbeitet, erklärt Voigt. Gegen diese Emotionalisierung käme man mit Fakten nur schwer an. Und die Bürgerinitiativen arbeiteten inzwischen professioneller, so Voigt. Sie sind online vernetzt und versorgen sich gegenseitig mit Material.
Die Initiative „Vernunftkraft“ stellt eine Art Dachverband der einzelnen Gruppen dar. Dort werden Neuigkeiten über aktuelle Proteste zusammengetragen, Argumentationshilfen geliefert oder Bildmaterial zur Verfügung gestellt. Auf der Internetseite veröffentlicht der Dachverband selbstverfasste Pressemeldungen; daneben organisiert er eigene Veranstaltungen. Die Seite wirkt professionell gestaltet und ist von den Texten her auch für Laien leicht verständlich. Dabei werde allerdings selten zwischen Meinung und Fakten unterschieden und zudem fadenscheinig argumentiert. Zu dem Ergebnis kommt eine Studie zur regionalen Windkraftkommunikation im Masterstudiengang „Medienentwicklung“ der Hochschule Darmstadt. Die Analyse befindet zudem, dass es „Vernunftkraft“ nicht nur um Naturschutz ginge, sondern Erneuerbare Energien und teils sogar der Klimawandel als Ganzes in Frage gestellt werden.
Siedelsbrunn, ein geteiltes Dorf
Die Bürgerinitiativen treten immer offensiver auf. Kürzlich zeigte die Gruppe „Gegenwind Siedelsbrunn“ einen Trailer in einem Darmstädter Kino, in dem sie die Windkraftanlagen im Odenwald anprangerte. Der Clip soll auch in der Stadt Stimmung machen und Zweifel säen, den die meisten nicht haben. Denn momentan sind die Deutschen positiv gegenüber der Windenergie eingestellt, wie eine Umfrage der „Fachagentur Windenergie an Land“ herausfand: 83 Prozent hielten im September 2017 die Nutzung und Ausbau für „wichtig“ oder „sehr wichtig“.
Selbst in Siedelsbrunn ist die Stimmung nicht so eindeutig, wie es die Bürgerinitiative bisweilen darstellt. „Das Dorf ist geteilt“, gibt Otto Morr unumwunden zu. Die ganze Gemeinschaft sei gestört, die Lager stünden sich unvereinbar gegenüber. Er führt den Bruch darauf zurück, dass sich viele Einwohner nicht informiert hätten und daher pro Windkraft eingestellt seien. Dass diese Menschen andere Beweggründe haben könnten, die Windenergie zu unterstützen, glaubt er nicht – etwa Klimaschutz und damit auch den Ausbau erneuerbarer Energien.
Die Entega sagt, die Lage vor Ort beruhige sich. Immer mehr Menschen in Siedelsbrunn interessierten sich eher für die Technik und die Vorteile der Windkraft. „Wir haben den Eindruck, dass die teilweise gezeigte Militanz viele abschreckt“, erklärt Matthias Send. „Unsere Erfahrung bei anderen Windparks zeigt, dass meisten Bewohner ihren Frieden mit den Anlagen machen, wenn die Bauarbeiten beendet sind und die Renaturierung abgeschlossen ist.“
Otto Morr ist vom Ausflug zu den Baustellen beendet und steht vor seinem Elternhaus in Siedelsbrunn. Er Blick auf den Stillfüssel hinüber, der noch immer vom Nebel verhüllt ist. „Von hier aus kann ich die Anlagen normalerweise jetzt sehen“, sagt er und deutet in die milchige Suppe. Für ihn ist der Eingriff in die Natur nicht wieder wett zu machen. „Wenn wir den Topf aufs Feuer stellen und den Deckel draufmachen, dann fliegt dir bald alles um die Ohren. Es kommt zur Katastrophe, wenn wir die Natur so unterdrücken.“ Morrs Meinung nach stehen die Windräder für ein zügelloses Fortschrittsdenken. „Sogar die Atomkraft“, holt der Waldläufer aus, „ist nicht so verheerend wie dieser rücksichtlose Umgang mit unserer Umwelt.“