Drei Online-Semester und ein Pflichtpraktikum in meiner Heimatstadt Stuttgart. Bis vergangenen Oktober war das die Bilanz meiner bisherigen Bachelor-Studienzeit. Währenddessen bin ich viel zwischen meinem Elternhaus und der Wohnung meines Partners gependelt, in Zahlen ausgedrückt: elf Kilometer. Da wir beide ein Auto besitzen, war diese Distanz absolut machbar. Mittlerweile bin ich im fünften Semester angekommen, mein Lebensmittelpunkt hat sich nach Darmstadt verlagert und die Entfernung um knapp 200 Kilometer verlängert. Bei meinem Umzug habe ich nicht nur mein Bett, meine Kleidung und meinen Laptop mitgenommen, sondern auch einen riesigen Rucksack. Gefüllt war er mit Unsicherheit, unzähligen Bahntickets und vor allem Zerrissenheit. Seitdem frage ich mich: Geht dieses Gefühl irgendwann weg? An wie vielen Orten kann man zuhause sein? Ist man überall ein bisschen zuhause und nirgendwo so richtig?
Viele Orte bedeuten viele Umfelder. Auf der einen Seite empfinde ich das als extrem bereichernd und keines davon möchte ich missen. Auf der anderen Seite werde ich dadurch aber permanent mit der Zerrissenheit konfrontiert. Oft plagt mich mein schlechtes Gewissen, weil ich weder meiner Familie noch meinem Partner, meinen Freund:innen in Stuttgart oder meinen Kommiliton:innen gerecht werde. Hinzu kommt, dass ich die meiste Zeit nicht einmal mir selbst gerecht werde und das Thema selfcare zu oft untergeht. Ganz zu schweigen von meinen Interessen oder meinem Wunsch, mich sozial zu engagieren. In meinen Schubladen stapeln sich Bücher über Bücher und ich bin auch meistens schnell motiviert, mir ein neues zu kaufen. Allerdings fällt es mir extrem schwer, vom Kaufen ins Lesen überzugehen, zur Ruhe zu kommen und mich auf das Buch zu konzentrieren. Als mein Zuhause noch ein einzelner, fester Ort war, hatte ich dieses Problem der Rastlosigkeit so noch nicht.
Nach einer Woche voller Vorlesungen, Seminaren, Abgaben und Arbeit als Werkstudentin, sieht ein exemplarisches Wochenende etwa so aus: Freitags verabrede ich mich mit meinen Kommiliton:innen, samstags besuche ich erst ein Blockseminar in der Hochschule und verbringe meinen Abend mal wieder im Zug, ehe ich sonntags mit meiner Familie und meinem Freund essen gehe und nachts schon wieder im Zug nach Darmstadt sitze. Montags beginnt alles von vorne. Natürlich ist nicht jede Woche gleich, aber das Hin- und Herwechseln der Orte und Umfelder meistens schon. Ich mag es, so viele verschiedene Charaktere, Geschichten und Ansichten um mich zu haben. Aber mein Kopf ist andauernd dabei, Gespräche, Eindrücke und Informationen zu verarbeiten und ich muss andauernd mein „Gesicht” wechseln. An manchen Tagen habe ich das Gefühl, gleichzeitig alles und nichts zu schaffen und überall und nirgendwo zu sein. Trost finde ich darin, dass ich mit dem Gefühl der Zerrissenheit und dem Pendeln zwischen Orten und Umfeldern nicht alleine bin.
„Wer rastet, der rostet.” In meinem Fall kann ich diesem Sprichwort ganz klar widersprechen. Ich sehne mich nach Ankommen, Rast und Bleiben. Zeit ist fortlaufend, nur vom Tod begrenzt, aber trotzdem habe ich ständig zu wenig davon. Die Zeit rennt und rennt und rennt und ich renne ihr immer nur hinterher. Sobald ich sie eingeholt habe, drückt sie wieder aufs Gas und ich werde erneut zur Verfolgerin – ein kräftezehrendes Prozedere. Am liebsten würde ich mich aufteilen und gleichzeitig in jedem einzelnen Zuhause präsent sein.
Aber in der Realität bin ich nunmal rastlos, permanent unterwegs und es fällt mir unfassbar schwer irgendwo anzukommen, weil ich an keinem Ort lang genug bin. Laut Duden gibt es keinen Plural von „Zuhause” und vielleicht beschreibt das meine Zerrissenheit am besten.