Von Stefan Bröckling
Seit etwa 20 Minuten halte ich mich bei ihr auf. Sie ist nicht mehr in der Lage, die Augen zu öffnen. Und ich bin nicht in der Lage, zu beurteilen, ob sie überhaupt noch Augen hat. Hinter dem Lid fehlt die erwartete Wölbung. Und dass die ausgeprägte Hackordnung gerade bei diesen Tieren schnell in Kannibalismus übergeht, weiß man, daher entfernt man ihnen grundsätzlich die Oberschnäbel. Am Boden vor mir liegt eine Pute im Todeskampf.
Vielleicht, wenn das Tier Glück hat, befindet es sich bereits in einem Dämmerzustand und bekommt nicht mehr viel mit. Vielleicht ist es schon jenseits des Schmerzes und kurz vor seinem letzten Atemzug. Ich hoffe es zumindest. Und während meine Videokamera das Elend der Pute in eine Folge aus digitalen Einsen und Nullen konvertiert, liege ich am Boden direkt neben dem Tier und interviewe mich selbst. Draußen steht derweil ein Wachposten und beobachtet mit einem Nachtsichtgerät die Umgebung.
Kommt der Farmer, gibt er uns sofort Bescheid. Dann flüchten wir einige Kilometer weit durch die Nacht und lassen uns von einem Fahrer in einigen Kilometern Entfernung wieder einsammeln. So arbeiten wir. Und so entsteht die Dokumentation des Grauens in der deutschen Massentierhaltung. Die Zustände sind eigentlich immer die gleichen. Mal schlimm, mal schlimmer, mal unerträglich. Aber nie tiergerecht, nie „human“, und fast nie im Rahmen der ohnehin schon laschen Gesetze.
Letztlich stolperte die niedersächsische Landwirtschaftsministerin Astrid Grotelüschen (CDU) über genau diese Pute und ihre Artgenossen. Denn sie alle wurden von der Brüterei ihres Mannes, in der sie selbst Jahre lang in leitender Position tätig war, an die Mastbetriebe geliefert, in denen wir uns im Sommer 2010 umschauten. Das Elend der Puten und Dumpinglöhne sowie fragwürdige Arbeitsmethoden in Grotelüschens Fitkost-Schlachtbetrieb in Neubrandenburg, in der die Ministerin auch als Prokuristin tätig war, brachten sie letztlich nach etwa acht Monaten im Amt zu Fall.
Anlässe für eine Recherche
Niemand hatte uns auf den Fall Grotelüschen hingewiesen. Es war einfach eine logische Konsequenz, die sich aus der Ernennung einer Lobbyistin der Massentierhaltung zur Tierschutz-Ministerin eines ganzen Bundeslandes ergab. Natürlich reagieren wir nicht nur auf aktuelle Anlässe. Mittlerweile werden immer mehr Fälle durch Informanten an uns heran getragen. Daher haben wir unter www.peta.de/whistleblower ein Formular eingerichtet, dass für die Übertragung brisanter Informationen genutzt werden kann. Über dieses Formular und über unsere reguläre Mailadresse werden die meisten Missstände an uns heran getragen.
Häufig sind die Whistleblower Nachbarn, die schon seit Ewigkeiten versucht haben, etwas zu unternehmen und immer wieder scheiterten. Auch von ehemaligen Mitarbeitern diverser Firmen, von Tierpark-, Zirkus- oder Zooladenbesuchern bekommen wir Hinweise. Oder von Zulieferern bzw. externen Dienstleistern, wie Lkw-Fahrern, Elektrikern, Tierärzten. Die Ausnahme war der Wiesenhof-Skandal. Der Auslöser der Recherche waren die Hinweise des Ehepaars, dass die Farm zu diesem Zeitpunkt noch bewirtschaftete.
Da sie als Neu- und Quereinsteiger von den Bedingungen, unter denen sie die Tiere halten mussten, schockiert waren, meldeten sie sich bei PETA. Sie wurden von uns mit versteckten Kameras ausgestattet. Außerdem ermöglichten sie uns die Installation diverser fest installierter Kameras. Mittlerweile sind es wöchentlich 25 – 30 Meldungen, die bei uns eingehen. Natürlich können wir nicht alle bearbeiten. Oft benötigen wir für einen Fall etliche Tage, manchmal auch mehrere Wochen und hin und wieder sogar Monate.
Recherche im Internet
Viele Informationen erhalten wir durch ausgiebige Webrecherchen. Zuerst erfolgt die gängige Suchmaschinen-Recherche. Zur Informationsbeschaffung werden aber auch Webarchive (z. B. archive.org), soziale Netzwerke, Firmen-Datenbanken und Kartendienste herangezogen. Gerade im Bereich der Massentierhaltungen sind Google Earth, Bing Maps und die Geodaten-Portale der Landesvermessungsämter eine wichtige Hilfe. Oft kann man schon anhand eines Luftbildes auf die Art der Tierhaltung schließen. Wir können entscheiden, von welcher Seite wir uns nähern, in welche Richtung wir gegebenenfalls flüchten und manchmal sogar erkennen, wo die Kadavertonnen stehen.
Google Earth bietet dabei sicher die schnellsten Ergebnisse. Im für uns wichtigen ländlichen Bereich kann ein Luftfoto bei Google Earth aber auch schon mal 10 Jahre alt und schlecht aufgelöst sein oder eine Wolke verdeckt die Sicht auf die darunter liegenden Gebäude. Daher wird auch immer bei Bing Maps geschaut, wo Luftbilder durchaus aus den gleichen Basisdaten stammen können, aber eben
auch aus hoch aufgelösten Vogelperspektiven, die im Idealfall aus vier Himmelsrichtungen fotografiert wurden. Die aktuellsten Fotos erhält
man meist bei den Landesvermessungsämtern. Praktisch jedes Vermessungsamt hat heute sein eigenes Online-Geoportal.
Auch der umstrittene Dienst Street View kann durchaus mal zu einem wichtigen Hilfsmittel werden. Solange die ländlichen Bereiche aber noch nicht erfasst sind, sind die Luftbilder für uns von weitaus höherer Bedeutung. Wie in jedem anderen Bereich ist auch bei uns die Online-Recherche, egal ob mit Suchmaschinen, Luftbild- oder Firmenportalen kein Buch mit sieben Siegeln. Die gewünschten Ergebnisse bekommt man vergleichsweise leicht, wenn man weiß, wonach man sucht. Und wenn man durch entsprechende Kenntnis der Materie in der Lage ist, wichtige und unwichtige Informationen von einander zu trennen.
Aktion: Nachtrecherchen
Zu Beginn einer Nachtrecherche verschaffen wir uns erst einmal einen Eindruck der entsprechenden Betriebe. Im Fall Grotelüschen war es so, dass wir die Höfe eines jeden einzelnen Mitglieds der Putenerzeugergemeinschaft Mecklenburg-Vorpommern aufsuchten. Machten die Ställe schon von außen kein gutes Bild, gingen wir davon aus, dass es innen nicht viel besser war. Fehlten z. B. Kadavertonnen, so wussten wir, dass die toten Tiere mitunter in den Vorräumen zwischengelagert werden, was nicht zulässig ist. Bei Putenfarmen kann man oft schon anhand der nach außen dringenden Tiergeräusche das ungefähre Alter einschätzen.
Hört man draußen die Küken piepsen, weiß man, dass man hier erst in etlichen Wochen noch einmal vorbei schauen sollte. Wie bei allen Fleisch liefernden Tieren ist auch bei Puten das Mastende für die Bilddokumentation am ergiebigsten. In ländlichen Gebieten fallen am Feldweg abgestellte Fahrzeuge schnell auf. Da, wo jeder jeden kennt, kann man nicht einfach nachts ein Fahrzeug mit fremden Kennzeichen parken und stundenlang unbeobachtet stehen lassen. Daher werden wir in der Nähe der Farmen abgesetzt und später wieder abgeholt.
Das ermöglicht uns auch, im Falle einer Flucht in praktisch jede Himmelsrichtung laufen zu können, wenn es sein muss auch über mehrere Kilometer, da wir ja nicht zu einem in der Nähe der Farm geparkten Auto zurück kehren müssen. Über Mobilfunk und GPS-Geräte finden sich Fahrer und Einsatzgruppe problemlos wieder. Entgegen anders lautender Gerüchte, die hin und wieder leider auch von Medienvertretern ohne weitere Nachfrage veröffentlicht werden, betreten wir tatsächlich nur offen stehende Ställe. Wir brechen nicht ein. Es gibt lediglich eine Form des Einbruchs, auf die wir nicht verzichten können. Und das ist der Einbruch der Dunkelheit.
Einfach Losknipsen geht gar nicht
Denn im Dunkeln können wir die Stallanlagen ungesehen betreten. Wir hinterlassen im Idealfall keine Spuren. Nur so ist es möglich, eine Recherche gefahrlos über einen langen Zeitraum durchzuführen. Bevor es wieder hell wird, sind wir bereits verschwunden. Die meisten Menschen sind verwundert, wenn sie erfahren, dass die Farmen nachts unverschlossen sind. Und tatsächlich war es vor 15 Jahren sicher einfacher, offene Ställe auszumachen. Aber auch heute ist ein begehbarer Stall keine Seltenheit, selbst dann, wenn wir in unmittelbarer Umgebung bereits einige Monate zuvor recherchiert und die Ergebnisse veröffentlicht hatten.
Während innerhalb der Ställe gefilmt und fotografiert wird, passen Wachposten draußen auf. Kommuniziert wird mit Funkgeräten oder Handys. Für die bessere Sicht im Dunkeln sorgen neben Nachtsichtgeräten auch passive Nachtgläser, wie sie z. B. bei der Jagd Verwendung finden. So konnten wir bisher immer rechtzeitig flüchten, wenn doch mal jemand zur Farm kam (z. B. ein Futterlieferant). Selbstverständlich gehen wir innerhalb der Ställe vorsichtig vor. Die Tiere wissen, zu welcher Tageszeit normalerweise Menschen im Stall sind. Türen aufreißen und losknipsen geht da gar nicht. Wir betreten die Ställe vorsichtig, machen anfangs möglichst wenig oder gar kein Licht, lassen den Tieren Zeit, sich an uns zu gewöhnen.
Erst wenn wir den Eindruck haben, dass sie ruhig bleiben, fangen wir langsam an. Blitz- oder Videolicht stört die Tiere meist wenig, wenn wir sie sanft darauf einstimmen. Beim Fotografieren gehen wir selten unter ISO 400, mit dem Videolicht sollte man gerade bei Vögeln keine schnellen Schwenks machen. Wer sich an ein paar logisch nachvollziehbare Regeln hält, versetzt die Tiere auch nicht in unnötigen Stress. Der Erfolg ist, dass die Rinder, Schweine, Hühner oder Puten sogar die Nähe der Kamera suchen, um diese zu inspizieren. Für sie ist es womöglich eine spannende Abwechslung zu ihrem trostlosen, reizarmen Alltag in der Massentierhaltung.
Nötiges Equipment für die Recherche
Im Fotobereich nutzen wir herkömmliche Spiegelreflexkameras, wobei ich persönlich ganz gerne auch mal entfesselt blitze, wenn die Zeit es
zulässt. Meist reicht ein 18 – 105 mm Objektiv. Der Objektivwechsel inmitten von Futter- und Gefiederstaub sollte vermieden werden. Hin und wieder mache ich auch Langzeitbelichtungen, manchmal auch nur mit Hilfe einer Taschenlampe als Lichtquelle. Im Videobereich habe ich lange mit semiprofessionellen Geräten gearbeitet. Zubehör: ein Sachtler-Stativ, Kopflicht, Funk- und Richtmikro und ein Windfell.
Da es heute aber unerlässlich ist, neben der Videodokumentation auch Beweisaufnahmen, die den Wahrheitsgehalt der Bilddokumente belegen, anzufertigen, greife ich mittlerweile auf Amateurkameras aus dem oberen Preissegment zurück, da nur diese über einen Infrarotmodus verfügen. Im Profi- und Semiprofi-Bereich werden solche Funktionen bisher nicht angeboten. Die Sony XR520 ist klein, lichtstark und macht ein stimmiges, rauscharmes Bild. Ich kann während der Aufnahme zwischen normalem und Infrarotlicht wechseln, und so im Innern als auch im Außenbereich filmen.
Wir halten auch GPS-Geräte und aktuelle Zeitungen vor das Objektiv, um Ort und Zeit der Aufnahmen belegen zu können. Während des Aufenthaltes auf dem Farmgelände läuft die Kamera durch. Die Record-Taste wird nicht benutzt, damit anschließend eine einzige,
recht lange Videosequenz vorhanden ist, die im Falle einer juristischen Auseinandersetzung als Beweismittel dient. Im Schnitt ist das eher von Nachteil, da ein Großteil des Materials nur durch das Durchlaufen der Kamera, und nicht durch bewusstes Filmen entsteht.
Nachtsichtgeräte und GoPro Action Kameras
Von Nachtteil sind bei der XR520 das teilweise sehr unübersichtliche Menü, die geringe Anzahl der Tasten, das fummelige Fokusrad und die fehlende manuelle Tonaussteuerung. Die neue Canon XA10 ist noch lichtstärker als die Sony-Cam, verfügt über mehr manuelle Einstellmöglichkeiten, die für Interviews wichtige manuelle Tonaussteuerung und erstmals auch über einen Infrarotmodus. Im abnehmbaren Henkel sind das IR-Licht und ein Tonteil mit zwei XLR-Eingängen sowie die Aussteuerungselektronik untergebracht. Wir haben seit kurzer Zeit zwei dieser Geräte im Einsatz.
Die Ergebnisse sind bisher recht zufrieden stellend. Neben dem oben bereits erwähnten Zubehör gehören auch verschiedene Infrarot-Scheinwerfer und -Laser zum Videoequipment. Dazu kommen Nachtsichtgeräte mit Videoschnittstelle sowie eine GoPro Action Kamera, wie sie auch gerne von Surfern, Skifahrern oder Fallschirmspringern verwendet wird. Im Bereich der versteckten Dokumentation verfügen wir über Kameras in Handys, Kugelschreibern, Uhren, Brillen, Knöpfen, Schrauben und etlichen anderen Gegenständen des täglichen Gebrauchs.
Diese können gegebenenfalls auch mit Langzeitrekordern verbunden werden, die netzgebunden über Wochen, und netzunabhängig zumindest über mehrere Tage laufen. Auch verschiedene Messgeräte kommen zum Einsatz. Ein NH3-Messgerät ermöglicht Ammoniakmessungen innerhalb der Ställe. Die zulässigen 20 ppm werden nicht selten überschritten. Ein H2S-Messgerät dient eher dem eigenen Schutz vor gefährlichem Schwefelwasserstoff, z. B. in Schweinemastbetrieben. Defekte oder schlecht gewartete Technik kann innerhalb der Ställe enormen Lärm verursachen (z. B. eine Futterschnecke). Diesen messen wir dann mit einem Schallpegelmessgerät.
Öffentlichkeit herstellen
Die Öffentlichkeit stellen wir ziemlich unspektakulär über Pressemitteilungen her. Durch die nicht unerhebliche Anzahl an veröffentlichten
Tierschutz-Skandalen hat man bei den Medien für unsere Inhalte meist ein offenes Ohr. Ich denke, dass wir auch deshalb recht glaubwürdig sind, weil wir eben genau das zeigen, was der Bürger ohnehin mit Massentierhaltungen verbindet. Wenn auch nicht in dieser Menge und in der nicht seltenen Brutalität. Erscheinen uns bestimmte Recherchen besonders wichtig, veröffentlichen wir diese in Form einer Pressekonferenz, wie z. B. im Fall Grotelüschen oder beim Wiesenhof-Skandal.
Der Fall Wiesenhof
Wiesenhof gibt es seit den 50er Jahren. Damals steckte das Unternehmen noch in den Kinderschuhen. Heute ist es die Geflügelmarke Nr. 1 in Deutschland und der erfolgreichste Geschäftszweig der in Visbek ansässigen PHW-Gruppe. Wenn ich bedenke, wie fahrlässig man dort nicht nur mit den Tieren, sondern auch mit den eigenen Mitarbeitern umgeht, wundert es mich, dass erst im Jahr 2009 zwei Farmer den Entschluss gefasst hatten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Unzufriedene Ehemalige gibt es sicher bedeutend mehr. Aber in dieser Branche wird einfach nicht viel geredet.
Und jeder weiß, wie einflussreich die Drahtzieher sind. Denen spuckt man nicht in die Suppe. Man geht, wenn mangehen muss. Aber man schweigt. Kerstin Wessels und Steffen Pohl waren da anders. Sie waren neu in der Branche. Und – wie viele andere auch – Quereinsteiger. Er war Schlosser und LKW-Fahrer, sie Friseurin. Gelernte Tierwirte – bei Wiesenhof kein Kriterium für eine langfristige Beschäftigung. Er war auf der Suche nach einem Job in der Nähe seiner Frau, weil sie längere Zeit krank war. Das Stellen angebot von Wiesenhof, als Betreiber einer Elterntierfarm, schien ideal. Fortan konnten sie jeden Tag direkt vor der Haustür arbeiten.
In Eigenregie. Als Selbstständige. Na ja, ganz so selbstständig war das dann doch nicht. Denn das Arbeitsmaterial wurde von Wiesenhof gestellt. Die Farm, die Futtermittel, die Tiere, das Wohnhaus. Alles gehörte der Firma. Freie Entscheidungen durften Wessels und Pohl auch nicht treffen. Ein Tierarztwechsel, weil man dem Vetragsveterinär vielleicht doch nicht so ganz traute? Undenkbar. Andere Futtermittel Vertraglich ausgeschlossen. Zwar erlaubte dieser Vertrag die Zusammenarbeit mit weiteren Abnehmern, im Berufsalltag war das aber gar nicht möglich. Die beiden hatten Arbeit genug, ihr Pensum gegenüber Wiesenhof zu erfüllen.
Kein Platz für eigene Hühner
Wie hätten sie eine zusätzliche Firma beliefern sollen? Zumal die Tiere – und somit die Eier – nicht ihr Eigentum waren. Platz für eigene Hühner gab es nicht. Und es wäre auch nicht erwünscht gewesen, soviel war sicher. Auf dem Papier war WIMEX, eine PHW-Tochter, der Abnehmer der Bruteier. Doch geliefert wurden die Eier ausschließlich an die Brüterei Weser-Ems. Jeden Tag. Ohne Ausnahme. Scheinbar waren Wessels und Pohl scheinselbstständig. Das zumindest erklärte ihnen ein Bankberater und verweigerte einen Kredit für ein neues Auto. Anfangs, in der Einarbeitungsphase auf anderen Farmbetrieben, da dachten sie noch, dass im eigenen Stall alles besser wird.
Dass dort keine Tiere in die Transportkisten geschmettert werden. Dass sie es sind, die die Regeln aufstellen. Dass keine gesunden Vögel getötet werden. Dass es den Hühnern – trotz Massentierhaltung – gut gehen kann, wenn das Farmmanagement stimmt. Aber es kam anders. Gleich am ersten Tag im eigenen Farmbetrieb, kurz nach Anlieferung der neuen Herde, begann schon das Gemetzel. Weit mehr Tiere, als in die Ställe passten, wurden geliefert. Überzählige wurden aussortiert und vom Wiesenhof-Impftrupp ohne Narkose durch Genickbruch getötet. Die Kadavertonne konnte gar nicht alle Hühnerleichen fassen. Die toten Tiere stapelten sich in den Vorräumen.
Wessels konnte es nicht fassen. Da wurden junge, gesunde Tiere einfach so getötet. Dass das nicht legal war, wusste sie sofort. Daher unterschrieb sie auch nicht den Wochenbericht, der 581 ohne Fremdeinwirkung verstorbene Hühner für die ersten sieben Tage belegen sollte. Laut diesem Bericht starben an einem Mittwoch 65 Hähne und 15 Hennen. In den nächsten fünf Tagen, von Donnerstag bis Montag, jeweils 68 Hähne und 15 Hennen und am Dienstag 70 Hähne und 16 Hennen. Völlig traumatisiert begannen sie ihren Arbeitsalltag. Die Farm war marode, die Technik störanfällig. Immer wieder riss eine Futterkette. Elektrische Leitungen waren teilweise abenteuerlich verlegt.
Sehr viele Quereinsteiger im Unternehmen
Lüfter fielen aus. Im Sommer stieg die Temperatur im Stall auf über 30 Grad, was den Hühnern schwer zu schaffen machte. Die Rote Vogelmilbe entdeckten sie schon nach wenigen Tagen. Dass die Farm befallen war hatte man ihnen nicht mitgeteilt. Abhilfe schaffte Wiesenhof erst nach Monaten. Nach mehrmaligen Nachfragen. Der Schmutzwasserbehälter in der Größe eines Güllesilos war bis zum Anschlag mit einer stinkenden Brühe gefüllt, die aus Reinigungswasser vom letzten Ausstallungsvorgang und auch einigen toten Hühnern bestand. Bei jedem stärkeren Regen lief das Becken über. Wiesenhof fand erst nach Monaten einen Bauern, der das Becken abpumpte und die Stinkbrühe auf einem Feld entsorgte.
Ob das Zeug umweltverträglich war wussten Wessels und Pohl nicht. Regelmäßig kam ein Laborant vorbei, der den Tieren Blutproben entnahm. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass der Laborant eigentlich Dachdecker war und dass er diesen Job nur auf 400-Euro-Basis verrichtete. Es gab im Großen und Ganzen sehr viele Quereinsteiger im Unternehmen, die nicht über den regulären beruflichen Background verfügten. Geflügelhaltung bei Wiesenhof scheint eine recht einfache Kiste zu sein. Nach einigen Monaten wurde ein Teil der Hähne ausgetauscht. Der Wiesenhof-Impftrupp kam und begutachtete die männlichen Vögel.
Erkannten sie, dass diese ihre „Arbeit“ nicht mehr verrichteten, wurden sie in die Transportkisten verladen. Oder gestopft. Oder geworfen. Oder mit aller Kraft hinein geschmettert. Die neuen Hähne waren teilweise nicht an das in der Farm befindliche Fütterungssystem gewöhnt, da die Aufzuchtbetriebe über teils neuere Technik verfügten. Der Produktionsleiter bereitete Wessels und Pohl darauf vor, dass einige Hähne wohl verhungern würden, wenn sie die neue Fütterungsmethode nicht annehmen. Sie verhungerten nicht. Aber nur deshalb, weil Kerstin Wessels diese Tiere von Hand fütterte. Jeden Tag.
Monate alter Hühnerkot
Bis sie es begriffen hatten. Von anderen Farmen wäre sie dafür belächelt worden. Überhaupt versuchten die beiden, es so gut wie möglich zu machen. Und tatsächlich habe ich niemals eine trockenere, bessere Einstreu als in der Farm in Twistringen gesehen. Na ja, Einstreu ist vielleicht das Wort, dass man bei Wiesenhof benutzt. Tatsächlich ist es Monate alter Hühnerkot. Aber der war eben so trocken wie in kaum einer zweiten Farm, was der Tiergesundheit entgegen kommen sollte. Tat es aber trotzdem nicht, denn die Hühner wurden krank. Sie litten an Ecoli-Bakterien, obwohl sie dagegen geimpft waren.
Sie hatten Mykoplasmose, eine Atemwegserkrankung, die der Tierarzt nicht in den Griff bekam. Wessels musste den Hühnern immer wieder ganze Medikamentencocktails verabreichen, teilweise sogar solche, die bei Ecoli und Mykoplasmose ausdrücklich nicht vergeben werden durften. So zumindest stand es auf der Verpackung. Der Produktionsleiter beschwichtigte die beiden Farmer. Der Tierarzt wisse, was er tue. Wusste er aber nicht. Das große Sterben setzte ein. Irgendwann stand der Wiesenhof-Cheftierarzt auf der Matte, wollte untersuchen, was den Hühnern so zu schaffen machte. An dem Tag hatten Wessels und Pohl mehr als zehn frisch verstorbene Hühner eingesammelt.
Der Tierarzt hingegen betrat den Stall, zog sechs lebende Hühner aus der Masse, brach ihnen das Genick, schnitt sie auf und kam zu der Erkenntnis, dass diese sechs Tiere nicht erkrankt waren. Dann zog er ab. Das Sterben ging weiter. Die kranke Herde produzierte zum Ende der eigentlich zehnmonatigen Legephase zu wenige Bruteier. Die Tiere waren nicht mehr rentabel. Der Ausstallungstermin wurde einige Wochen vorverlegt. Wessels und Pohl hatten bereits Monate zuvor erklärt, dass sie ihren Vertrag nicht verlängern möchten. Es war einfach nicht ihre Welt. Nicht ihr Verständnis vom Umgang mit Tieren. Wiesenhof war nicht das Unternehmen, für das es sich in der Öffentlichkeit ausgab.
Werfen, stopfen, schmettern
An dem Nachmittag, an dem sie ihre Sachen packten, waren die LKWs schon unterwegs zu ihrer Farm, um die Hennen in die Niederlande und die Hähne nach Frankreich zu transportieren. Gerade für das Fleisch „alter“ männlicher Elterntiere gibt es in Deutschland keinen Markt. Und der nur wenige Kilometer entfernte Wiesenhof-Schlachthof in Lohne, einer der modernsten seiner Art, war angeblich nicht in der Lage, Elterntiere zu töten, weil diese zu groß und zu schwer waren.
Ein kurzer Transportweg kam daher nicht in Frage. Das Drama wiederholte sich. Die Geflügelgreifer, diesmal von einer externen Firma, die sehr viel mit Wiesenhof zusammen arbeitete, warfen, stopften und schmetterten die Hühner in die Transportkisten. Sie wurden von der einen Stallseite auf die andere hinüber geworfen. Über die in der Mitte angebrachten Kotgruben und die Legenester. Einfach so, weil man zu faul war, für wenige verbliebene Tiere noch eine Transportkiste zu organisieren.
Am LKW standen zwei Arbeiter, die die Kisten aus Kopfhöhe auf den Boden des Transporters warfen. Knochenbrüche waren so unvermeidbar. Etliche Kisten fielen einfach vom Fließband auf den Hängerboden, wenn die Männer gerade nicht aufpassten oder auch mal gar nicht da waren. Und dann war es vorbei. Für Wessels und Pohl. Und Stunden später auch für die Hühner. Ich persönlich traf mich im Mai 2009 erstmals mit den beiden Farmern. Redete mit ihnen, erörterte, warum sie sich auflehnen wollten.
Sie wägten nicht ab
Sprach mit ihnen über die Risiken, aber auch über den Nutzen für die Sache der Tiere. Sie wägten nicht ab. Sie waren fest entschlossen. Selten war ich von Informanten so beeindruckt. Die Kameras, die ich vor dem ersten Hahnentausch einbaute, mussten danach sofort wieder verschwinden. Zu groß war die Gefahr, dass ein Elektriker sie zufällig entdeckte. Auch mit mobilen Geräten wurden wichtige Ereignisse dokumentiert, so z. B. das Töten eines Hahns durch Halten des Kopfes und Drehen des Körpers.
Vom milchgesichtigen Lehrling der zu Wiesenhof gehörenden Brüterei. Natürlich ohne Narkose. Die Aufnahmen in der Farm entstanden teilweise mit hoch lichtstarken S/W-Kameras, die in der Stalltechnik verbaut waren. Denn das Ausstallen der gesamten Farm fand bei fast völliger Dunkelheit statt. Es war ein Mix aus mobilen und fest installierten Geräten unterschiedlicher Bauart, die letztlich zum Erfolg führten.
Die Aufnahmen der versteckten Kameras, die Fotos und Videos, die ich immer wieder in aller Ruhe im Stall anfertigen konnte, die Farmunterlagen, die Schilderungen von Wessels und Pohl… alles das führte zum ersten wirklichen Tierschutz-Skandal, mit dem sich das Unternehmen bisher auseinandersetzen musste. Dem Wiesenhof-Skandal. Mehrfach wurde in den Medien infolge dieser Recherchen darüber berichtet, zuletzt in einer ARD Exclusiv Reportage, die am 31.08.2011 in der ARD ausgestrahlt wurde.
Dieser Beitrag erschien bereits im Band Recherche reloaded von Netzwerk Recherche.