Sentinel-5P während des Starts. Foto: ESA–Stephane Corvaja, 2017
Oktober 2017: Noch eine Stunde bis zum Start. Die Startrampe der Rakete vom Typ „Rockot“ ragt weit über die Baumwipfel des Waldes im russischen Plesetsk. An Bord trägt sie den Satelliten „Sentinel-5 precursor“. Wissenschaftler aus aller Welt erhoffen sich ganz neue Möglichkeiten von den Daten, die er liefern soll: Sentinel-5P wird ein Mal am Tag die Erde umrunden und währenddessen die Zusammensetzung der Atmosphäre genauestens messen. Bewegungen von sieben verschiedenen Treibhaus- und Abgasen wie CO2 oder Methan können dann live verfolgt werden.
3000 km Richtung Südwesten: Im Hauptzentrum der „Mission Control“ herrscht gespannte Stille. Die Techniker der European Space Agency (ESA) in Darmstadt bereiten sich auf den Raketenstart vor. Flugdirektor Pier Paolo Emanuelli fragt im „Role Call“, ob die einzelnen Kontrollstationen bereit sind. Über Lautsprecher tönt es durch die einzelnen Kontrollräume: „This is the last Sentinel-5P Role Call. Please respond on my request: Go or No-Go?“ An ihren Tischen antworten die einzelnen Teams. Bunte Kärtchen zeigen ihre Aufgaben während des Raketenstarts: Flugkontrolle, Datenanalyse, Koordination, Zeitplanung und vieles mehr. Auf ihren Bildschirmen flackern ellenlange Zahlenreihen. Es sind Daten über die einzelnen Teile der Rockot, die Sentinel-5P ins Weltall bringen soll.
Dann ertönen die kurzen Fragen Emanuellis, danach antworten die Teams: „Sum? – Sum Go. AOCS? – The AOCS Go.“ Gesprochen wird nur Englisch. An den Dialekten ist aber die Nationalität der Techniker zu erkennen: Spanisch, Französisch, Niederländisch, Deutsch und andere. 17 Teams fragt der Flugdirektor: „Go oder No-Go?“ Zum Schluss meldet sich die Planung: „Schedule – Go“. Emanuellini gibt den Start frei. „Das ist das Ende des letzten Role Calls. Alle Positionen sind bereit für den Start von Sentinel-5P.“ Auf das Team kommen nun drei Tage Präzisionsarbeit zu: Die Rakete und der Satellit sind bereit für ihren Flug ins Weltall.
Erdbeobachtung aus europäischer Sicht
Sentinel-5P ist der sechste Satellit den die ESA im Rahmen des „Copernicus“-Programms ins All schießt. Das Programm soll neue Erkenntnisse darüber bringen, wie sich der Klimawandel auf die Erde auswirkt. Copernicus überwacht schon heute Teile der Atmosphäre, Erdoberfläche und Ozeane. Die ESA nennt ihr Projekt deshalb „Europas Auge auf die Erde“. Die gesammelten Daten sollen unter anderen Landwirten, Stadtplanern und Umweltschützern helfen, mit dem Klimawandel zurechtzukommen. Auch die Politik ist auf exakte Daten über Temperaturen und Luftzusammensetzung angewiesen. Die Vorhersagen können genutzt werden, um politische Entscheidungen auf wissenschaftlichen Grundlagen zu treffen.
Ein Beispiel ist ein Projekt des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz . Auf Basis von Copernicus-Daten bewiesen die Forscher den Zusammenhang von Ruß und dem Abschmelzen der Polkappen. Der Studie nach zieht Ruß aus den Kaminen von Ölraffinerien im Nahen Osten in Richtung Norden. In der Arktis angekommen verfärbt er den Schnee, der dann schneller abschmilzt. Laut der Weltgesundheitsorganisation ist die Luftverschmutzung für über drei Millionen jährliche Todesfälle auf der ganzen Welt verantwortlich. Mit den Live-Daten des Copernicus-Programms könnten in Zukunft zum Beispiel Asthmakranke frühzeitig vor hohen Feinstaubwerten in der Luft gewarnt werden. So könnten sie vermeiden, während diesen Zeiten das Haus zu verlassen.
Aber nicht nur Wissenschaftler nutzen schon heute die Daten. Jeder kann live auf Copernicus-Messungen zugreifen und sie für seine Zwecke nutzen. Ein Beispiel für die kommerzielle Verwendung der Daten von Sentinel-5P sind Vulkanausbrüche. Mit der Hilfe des Satelliten können Wissenschaftler in Zukunft genau berechnen, in welche Richtung Vulkanasche nach einem Ausbruch ziehen wird und wie schnell das geschieht. Flugbetreiber können ihren Piloten mit diesen Daten genaue Anweisungen geben und Flüge im Voraus planen.
Darmstadt aus der Sicht von „Sentinel-2“. Seine Fotos werden genutzt, um Wolkenbewegungen zu beobachten und Bilder zu errechnen, welche die Erde ganz ohne Wolken zeigen.
Wie ein riesiger Pfeil
In Plesetsk leuchten die roten LEDs einer Uhr im Kontrollraum. Sie zeigen: noch zehn Minuten bis zum Start. Aus dem weit entfernten Kontrollraum wirkt der Hangar der Rockot wie ein seltsam geformtes, blaues Hochhaus. Über den grünen und braunen Wipfeln der Bäume wabert Nebel. Die Startrampe war im Kalten Krieg militärisches Gelände. Auch die Rockot selbst basiert auf militärischen Grundlagen. Sie ist eine Weiterentwicklung der Atomrakete „SS-19“, die in Zeiten des Kalten Krieges Teil der nuklearen Abschreckung war. Ausgemusterte Raketen werden so umgebaut, dass sie zuverlässig Satelliten ins All schießen können. Heute wird das Gelände in Plesetsk nur noch kommerziell genutzt. Weit und breit sind nur Bäume zu sehen, aus denen der Hangar mit seiner blauen Farbe heraussticht. Der Start steht kurz bevor.
Langsam schiebt sich der riesige Hangar zur Seite. Er ist auf Schienen gebaut, damit er bewegt werden kann. Die Rakete kommt Stück für Stück zum Vorschein. Ganz oben, unter der Spitze, sitzt der Satellit. In einem klinisch reinen und gekühlten Raum wartet er auf seinen Einsatz. Auf der weiß-blauen Verkleidung, die Sentinel-5P auf seinem Weg ins All schützt, haben alle Techniker unterschrieben, die am Zusammenbau von Rakete und Satellit beteiligt waren.
Die Verkleidung an der Spitze der Rakete Foto: Screenshot ESA
Noch drei Minuten, bis die Sentinel-5P abheben soll. Die automatische Startsequenz hat begonnen, sie kann nicht mehr abgebrochen werden. Auf der Startplattform in Plesetsk ist aber bisher nur die Spitze der Rockot ist zu sehen. Militärische Raketen sind so konstruiert, dass sie aus unterirdischen Silos abgeschossen werden müssen. Weil die Rockot auf einer solchen Rakete basiert, muss auch sie so gestartet werden. In Plesetsk es aber kein solches Silo. Deswegen haben sich die Ingenieure eine einfache Lösung ausgedacht: Sie schießen Sentinel-5p aus einem riesigen Rohr, das im Boden verankert ist.
Noch eine Minute. Im Wald zwitschern Vögel. Plötzlich flackert grell rotes Licht auf. Um 12:27 Ortszeit erglüht die Umgebung in der Farbe einer untergehenden Sonne. Die Rakete schießt aus ihrem Rohr. Wie ein riesiger Pfeil fliegen die 107 Tonnen Gewicht dem Himmel entgegen. Am Boden bleibt wenige Sekunden später nur dicker, rot-brauner Qualm zurück.
Das Team im Darmstädter Kontrollraum ist erleichtert. Alles hat so funktioniert, wie geplant. Innerhalb weniger Minuten hat die Rakete den Rand der Atmosphäre erreicht. Während der ersten Schritte kann das Team nicht eingreifen. Es hat keine Verbindung zu der Rockot. Die einzelnen Triebwerke trennen sich selbstständig ab, um das Gewicht zu reduzieren. Der weiterfliegende Teil gewinnt dadurch ständig an Tempo. Die Techniker müssen nun darauf warten, dass der Satellit erste Signale auf die Erde sendet. Bis zu diesem Zeitpunkt weiß niemand, was mit ihm geschehen ist.
Das Geld ist knapp
Die Planung für Projekte wie Copernicus dauert Jahrzehnte. Nicht nur deshalb sind Satelliten extrem teuer. Das Copernicus-Programm finanziert sich aus ihren 22 Mitgliedsstaaten und den Kooperationsstaaten. Einzelne Mitgliedsstaaten wie Norwegen spielen allerdings mit dem Gedanken, die Gelder für so teure Projekte wie die ESA zu kürzen. Bei anderen Raumfahrtprogrammen ist das bereits Realität. Die US-Amerikanische NASA steht zum Beispiel unter massivem finanziellen Druck, so etwa auch bei ihrem Weltraumteleskop „WFIRST“. Es soll im Frühjahr 2019 starten, bisher fehlt aber das Geld, um den Satelliten fertig zu entwickeln. Die Kosten sind von zwei auf drei Milliarden US-Dollar gestiegen. Gleichzeitig bekommt die NASA weniger Geld als in den vergangenen Jahren: 2018 bekommt sie 19 Milliarden Dollar von der Regierung, mehr als eine halbe Milliarde weniger als im Vorjahr. Die Beteiligten haben sich ungewöhnliche Methoden überlegt, um WFIRST trotzdem zu bauen. Das Teleskop zum Beispiel wurde vom „National Reconnaissance Office“, einem Teil des Verteidigungsministeriums, komplett übernommen. Ob die NASA das Projekt fertigstellen kann ist, aber immer noch unklar.
Erste Signale für die Erde
In Darmstadt kommen nach eineinhalb Stunden die ersten Signale des Satelliten auf der Erde an. Nur zwei Sekunden später, als im Voraus berechnet. Die ESA-Techniker in Darmstadt können ab diesem Zeitpunkt eingreifen, falls Probleme auftreten. Alles ist aber verlaufen wie geplant. Der Satellit wird von nun an über ein halbes Jahr auf Betriebstemperatur gebracht und die Instrumente für ihre Arbeit vorbereitet.
Im Dezember 2017 stellte Pepijn Veefkind, Verantwortlicher für die Datenauswertung, die ersten Bilder von Sentinel 5p vor: „Die Instrumente auf diesem Bild waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf der richtigen Temperatur, was man aber jetzt schon sehen kann, ist wirklich beeindruckend“. Die Grafik zeigt die Verteilung von Stickstoffdioxid (NO2) in der Atmosphäre rund um die Niederlande. Das Gas entsteht unter anderem bei der Verbrennung von fossilem Brennstoff. Größere Städte wie Brüssel, Rotterdam und Antwerpen sind leicht auszumachen. Der größte rote Punkt auf der Karte ist das Ruhrgebiet. „Mit den alten Instrumenten wäre ein solches Bild nicht möglich gewesen“, fasst Veefkind die Ergebnisse zusammen.
Wenn alles wie geplant verläuft, wird das Copernicus-Programm ab 2027 auf die Daten von 30 Satelliten zugreifen und sie weltweit frei zur Verfügung stellen. ESA-Direktor Jan Wörner erhofft sich weitreichende Veränderungen im Kampf gegen den Klimawandel. Seiner Meinung nach ist „das Copernicus-Programm dazu da, unsere Zukunft zu retten.“
Die Konzentration von Stickstoffdioxid in der Luft über der Niederlande.
Klar sind Großstädte wie Brüssel und Rotterdam zu erkennen.
Im Westen des Bildes liegt das Ruhrgebiet. Foto: ESA