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Auf dem Hörweg in Dieburg lasse ich mich in andere Welten verführen

Hörweg in Dieburg

von Selina Temizsoyoglu

Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Heute gehört der Tag ihr. Der Himmel hat die Wolken aus dem Weg geräumt, um endlich Platz für den heißen Stern zu schaffen. In mir kommen Frühlingsgefühle auf; das erste Mal in diesem Jahr. Ich stehe direkt vor dem Waldrand und beginne meinen Weg.

Im Wald herrscht eine andere Zeit. Frühling, Winter, Herbst – drei Jahreszeiten treffen hier aufeinander. Blätter verzieren den Boden, die hochragenden Bäume lassen die Sonnenstrahlen durchscheinen. Doch der Winter hat die Luft noch fest im Griff. Die Kälte streichelt meine Hände und Wangen, als ob sie versucht, mich zu verführen. „Ich bin noch hier“, sagt sie, „lass mich dich noch ein bisschen länger in meiner Umarmung einhüllen.“

Ich lasse alles um mich herum erst mal auf mich wirken. Während ich in Gedanken abschalte und eine friedliche Ruhe empfinde, ertönt über mir plötzlich ein Geräusch. Hoch oben in einem Baum sehe ich zwei Vögel, die einen Tanz vorführen.

Dann erblicke ich sie, die erste Station des Hörwegs. Ich laufe auf sie zu, bin gespannt auf das, was mich erwartet. Vorher aber nehme ich das Dröhnen einer Säge in der Ferne wahr. Ich lasse mich nicht weiter davon stören, höre lieber dem morgendlichen Waldkonzert zu. Die Vögel zwitschern wie in meinen Garten, es fühlt sich vertraut an. Die Industrieanlage ähnelt eher unruhigem Wasser. Vielleicht assoziiere ich damit aber einfach nur meine Sehnsucht nach dem Meer. Ein bittersüßes Gefühl kommt in mir hoch. Das Konzert hebt meine Laune. Ich fühle mich frei, habe Lust auf das, was noch kommt.

Auf dem Weg zur zweiten Station höre ich das Trommeln eines Spechts. Wenig später laufe ich an einem blauen Auto vorbei. Es wirkt deplatziert. Immer wieder treffe ich auf Baumstämme, die in Moos gekleidet sind. Das Sonnenlicht bricht sich durch die Bäume. Es lässt die ersten Schnaken erstrahlen, die vor mir rumtanzen. Kleine Tannen liegen auf den Weg. Ich bemerke sie erst, weil es sich immer wieder anfühlt, als würde ich auf kleinen Kugeln laufen. Bis auf den Specht sind die kleinen Steine unter meinen Schuhen der einzige Laut, der im Wald ertönt.

Die Stationen des Dieburger Hörwegs sind im ganzen Wald verteilt. Auf mich wartet also noch eine Reihe an kuriosen Klängen. Während ich weiterlaufe, verliere ich mich zunehmend in meinen Gedanken. Ich frage mich, was ich heute noch alles hören werde. Jegliche Waldgeräusche nehme ich auf meinem Weg zur nächsten Station nur noch als Hintergrundmusik wahr.

Konzerte der Natur

Der Klang der zweiten Station hört sich an wie ein Regenmacher gepaart mit großen Steinen, die im gleichmäßigen Rhythmus auf dem Boden geschlagen werden. Ich bin überrascht, dass sich eine Alteiche so anhören kann.

Ich laufe weiter. Der süßlich-herbe Geruch der Nadelbäume liegt in der Luft. Dann ändert sich meine Umgebung. Plötzlich gibt es mehr Büsche rechts vom Weg. Auf der Seite der Sonne wird es dichter, die Sonnenstrahlen dringen kaum noch durch.

Die Station der Fledermaus ist eine neue Klangerfahrung. Das starke Zischen am Anfang stört die sonst ruhige Weite. Ich bin nicht mehr im Wald. Ich bin in einer Höhle, umzingelt von Fledermäusen, die mit ihren Flügeln flattern. Schnell weg hier.

Die Frösche der vierten Station beleben den verlassenen Tümpel vor mir. Deren Quaken klingt aber unbehaglich. Ich gehe weiter. Nur noch die Baumspitzen erstrahlen jetzt im sonnigen Orange.

Der Jazz der Ameisen gleicht fließendem Wasser. Der Chorus setzt ein – wie ein Baum, der abgekratzt wird. Es klingt harmonischer als die Station der Insektensymphonie. Ich fühle mich von ihr verfolgt, würde am liebsten um mich herumschlagen und wegrennen.

Ich setze meinen Weg fort, nehme aber nur noch die Steigung des Pfades war. Dann ein Farbtupfer. Ich sehe die ersten Blumen; kleine Schneeglöckchen inmitten des vertrocknet wirkenden Waldes. Vor mir wird es lichter. Eine Wiese im satten Grün erscheint. Dort ist auch die siebte Station. Bis auf ein Knirschen in meinen Ohren höre ich aber nichts.

Der Rabenchor entführt mich an eine Küste. Um mich herum befindet sich ein Schwarm von Raben. Sie kommen immer näher, als ob sie neugierig auf mich wären. Dann ist alles still.

Auf dem Weg zur neunten Station schmücken blassgelbe Sträucher den Weg. Ich mache mich bereit, die Regensonate anzuhören. Ein Sturm wütet. Alles erwacht plötzlich. Reihum ist die Umgebung starr, aber in meinem Kopf lebt sie.

Mittlerweile setzt die Dämmerung ein. Der erdige Geruch des Waldes umgibt mich, aber er ist nicht unangenehm. Ich beeile mich und erreiche schnell die vorletzte Station. Der Specht ist jetzt auch klar in meinen Kopf zu hören. Er wirkt spielerisch, als ob er wollen würde, dass man ihm lauscht. Er gibt den Takt an, ich tanze für zwei Minuten mit.

Es wird jetzt dunkel. Neben mir plätschert ein Bach. Den ersten Bach, den ich sehe, der nicht ausgetrocknet ist. Ich beeile mich wieder, um die letzte Station zu erreichen. Dann sehe ich sie. Ich renne auf sie zu und höre mir die letzte Symphonie an.

Sie passt zur Umgebung. In der Klangwelt ist es Nacht, die Natur ist ungestört. Jedes Tier ist in seinem Element. Inmitten der Laubfrösche und Grillen fühle ich mich fehl am Platz. Ich merke: Der Tag gehört nicht nur der Sonne. Der Tag gehört der Natur. Mit diesen Gedanken verlasse ich den Wald und seine Bewohner.

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