Christian Mihr ist seit 2012 Geschäftsführer der unabhängigen Nichtregierungsorganisation (kurz: NGO) Reporter ohne Grenzen. Mihr ist Journalist, Menschenrechtsaktivist und Experte für internationale Medienpolitik. Vorher hat er unter anderem mehrere Jahre bei Print-und Onlinemedien in Deutschland und Ecuador gearbeitet. Er war Dozent in der journalistischen Weiterbildung für eine deutsche Stiftung in Südrussland. © Martin von den Driesch_RSF

Interview: Antonia Hirnich

Herr Mihr, auch in Deutschland gibt es offene Gewalt gegen Medien, wie sieht das genau aus?

In Deutschland unterscheidet sich die Gewalt zu der in anderen Ländern. In vielen Ländern der Welt geht die Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten von staatlichen Akteuren vor allem aus. Und in Deutschland geht die Gewalt aus von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wir haben im vergangenen Jahr und auch in den Jahren davor jeweils Rekordquoten von gewalttätigen Übergriffen gegen Journalistinnen und Journalisten gehabt. Im vergangenen Jahr allein 80 Übergriffe, von denen wir alle auch verifiziert und recherchiert haben, das heißt mit Betroffenen gesprochen, mit der Polizei gesprochen und 52 dieser 80 Fälle waren auf Demonstrationen im Querdenken-Milieu.

Zwölf dieser Angriffe, laut „Reporter ohne Grenzen“ eine hohe Zahl, gingen dabei aber von der Polizei aus.

Wenn man sich mal im Detail mit den Fällen beschäftigt, sieht man, dass diese Demonstrationen oft unübersichtliche Situationen sind, in denen Emotionen, Bewegung und Chaos ist. Viele dieser Situationen sind aber vergleichbar. Nämlich Situationen, in denen unklar ist, wie die Lage gerade ist: Wer ist hier eigentlich gerade Aggressor? Es ist so, dass Polizistinnen und Polizisten, um es mal zugespitzt zu sagen, in manchen Situationen nicht wissen, was die Pflichten von Polizistinnen und Polizisten. Und auch nicht, was die Rechte von Journalistinnen und Journalisten sind – wie ebenso die Rechte der Demonstrierenden. Es ein Problem in der polizeilichen Aus- und Weiterbildung, die ist nicht immer auf dem aktuellen Stand.

Haben Sie ein Beispiel für knifflige Fragen hier?

Ja, das Filmen. Wenn man auf eine Demonstration geht, geht man in die Öffentlichkeit. Das ist eine Entscheidung. Demonstrierende wollen dann oft nicht gefilmt werden. Aber es ist doch schon eine Entscheidung für die Öffentlichkeit – ob das hinterher gefällt oder nicht.

Welchen Einfluss hat die Politik womöglich auf Ihr Ranking der Pressefreiheit – etwa durch ausbleibende Antworten auf Fragen von Journalist:innen, das Verschleppen von Gesuchen?

In der Summe, glaube ich, ist in Deutschland ein großer Respekt in der öffentlichen Kommunikation vorhanden. Aber es gibt natürlich immer wieder Ausfälle, wie vor kurzem Markus Söder, der einem Journalisten in einem Deutschlandfunk- Interview eine tendenziöse Haltung unterstellte. Von allen Parteien gibt es immer wieder mal Ausfälle. Trotzdem: Die Bundespressekonferenz zum Beispiel ist weltweit etwas Einmaliges. Journalistinnen und Journalisten laden ein und nicht die Regierenden, und da machen alle mit bei diesem Spiel. Wir jammern in Deutschland. Aber wir jammern im internationalen Vergleich auf hohem Niveau.

Ein Grund für die Verschlechterung der Pressefreiheit sind auch Klagen gegen kritische Recherchen. Eine neue EU-Richtlinie soll Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen vor Einschüchterungsklagen schützen. Die Richtlinie soll Gerichten erlauben, „missbräuchliche“ Klagen abzuweisen. Außerdem soll es Strafen geben. Denken Sie, dass dieses Gesetz Wirkung zeigen wird oder ist es ein Tropfen auf den heißen Stein?

Es ist jetzt ja der Entwurf einer Richtlinie und Richtlinien müssen ja auch umgesetzt werden in nationale Gesetze. Den Entwurf begrüßen wir auch, aber er hat eine Schwachstelle, die aber die Richtlinie nicht auflösen kann. Die Richtlinie kann nur transnationale Rechtsmissbrauchsvorfälle in den Entwurf reinschreiben. Das heißt, wenn ein deutscher Journalist in Italien mit Klagen überzogen wird oder umgekehrt ein Italiener in Deutschland, kann das nicht damit geregelt werden. Die EU-Richtlinie ist genau eben nur für deutsche, nur italienische Rechtsmissbrauchsklagen, nur maltesische oder nur bulgarische.


Ergänzung von der Redaktion: Aktuell gibt es zwei Arten von EU-Gesetzen: Richtlinien und Verordnungen. Richtlinien sind Rahmengesetze der EU. Sie formulieren eine politische Forderung an die Mitgliedsstaaten, die diese dann in ihrem jeweiligen nationalen Recht umsetzen müssen. Dafür gibt es eine Frist. In welchem Rahmen die Mitgliedsstaaten diese Richtlinie umsetzen, ist ihnen überlassen. Die Richtlinie zeigt nur das Mindestmaß von dem an, was im nationalen Recht aufgenommen werden muss, an. Mehr über das Gesetzgebungsverfahren der EU-Gesetze und EU-Richtlinien gibt’s hier: Die Gesetzgebungsverfahren | Europäisches Parlament | Europäisches Parlament Verbindungsbüro in Deutschland (europa.eu)


Ob diese Richtlinie am Ende etwas bringt, hängt davon ab, wie sie die EU-Staaten in ihren jeweiligen, nationalen Gesetzen umwandeln. Es gibt in der Europäischen Union immer mehr Rechtspopulisten in der Politik, die diese Richtlinie nicht so begrüßen werden. Beispiel Ungarn oder Polen. Wie kann diese Richtlinie dann greifen?

Am Ende ist die EU die Vielfalt ihrer Mitglieder und was die Mitglieder daraus machen. Die Mitgliedsstaaten der EU sind sehr, sehr, sehr unterschiedlich. Ungarn. Wir haben im vergangenen Jahr im Rahmen unserer Liste der Feinde der Pressefreiheit erstmals einen EU-Regierungschef zum Feind der Pressefreiheit erklärt. Die EU hat viele Demokratiedefizite und schafft es letztlich, sich nicht gut zu reformieren. Und das rächt sich dann bei solchen Verfahren. Es wäre zu begrüßen, wenn Deutschland ein möglichst fortschrittliches Gesetz auf den Weg bringen würde, um den Missbrauch von Klagen auszuschließen und auch insbesondere die Rechte von Journalistinnen Journalisten dabei zu schützen. Aber die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie stimmt mich da nicht sehr optimistisch. Ganz ehrlich.


Ergänzung der Redaktion: Mehr zur Situation in Ungarn und Polen:
Ungarn | Reporter ohne Grenzen für Informationsfreiheit (reporter-ohne-grenzen.de)
Polen | Reporter ohne Grenzen für Informationsfreiheit (reporter-ohne-grenzen.de)


Im europäischen Vergleich ist die Pressefreiheit im Norden sehr gut, je weiter wir uns Richtung Süden beziehungsweise Osten bewegen, desto schlechter wird die Lage. Sie beschreiben das als Nord-Süd-Gefälle. Was unterscheidet den Norden so sehr vom Süden?

Schweden, Finnland und Norwegen sind immer besser in allem, was Demokratie betrifft. Die haben ein transparenteres Regierungshandeln, stärkere Rechenschaftsmechanismen und stärkere Informationsfreiheitsgesetze zum Beispiel. In Deutschland haben wir ein sehr schwaches Informationsfreiheitsgesetz. Also ein Gesetz, was den Zugang zu schriftlichen Behördeninformationen regelt. In Deutschland haben wir auf Bundesebene bis heute kein Auskunftsrecht. Die neue Regierung hatte versprochen, dass das kommen soll.

„Reporter ohne Grenzen dokumentiert Verstöße gegen die Presse- und Informationsfreiheit weltweit und alarmiert die Öffentlichkeit, wenn Journalistinnen und deren Mitarbeitende in Gefahr sind.“ Die Nichtregierungsorganisation setzt sich unter anderem für mehr Sicherheit und besseren Schutz von Journalistinnen und Journalisten ein. Mehr zu Reporter ohne Grenzen: reporter-ohne-grenzen.de

Wäre es nicht ein leichtes gewesen, dieses Gesetz auch bei uns auf den Weg zu bringen und zu verabschieden?

Das wäre es. Aber es kommen immer wieder dieselben Argumente. Es gibt berechtigte Bedenken, die die Geheimhaltung betreffen. Das ergibt auch Sinn, würde ich sagen, als Bürger. Aber das steht ja nicht im Widerspruch. Das ist aber nicht das einzige Problem. In Deutschland haben wir erst seit kurzem ein – wenn auch nicht so starkes – Recht auf einen Breitbandzugang. In skandinavischen Ländern ist das schon länger üblich. Deutschland ist in der Digitalisierung generell an vielem hinten dran. Infrastruktur ist ja ein Teil von Medienfreiheit, erst recht in einer immer digitaleren Welt. Wenn die Leute weniger gedruckte Zeitungen lesen, wie komme ich an Informationen? Auch das wurde auch in skandinavischen Ländern immer als zusammenhängend gesehen.

Aber auch dort gibt es Probleme: Beispielsweise in Schweden werden vermehrt Angriffe und Desinformationskampagnen im Internet beobachtet. Die Angriffe im realen Leben auf Journalist:innen bleiben in den skandinavischen Ländern aber weiter die Ausnahme.

Es gab dort immer weniger Gewalt. Und wenn man dann Deutschland mit Schweden vergleicht, dann wirken die über soziale Medien verbreiteten Informationen und Hassbotschaften auch anders. Die Algorithmen wirken tendenziell in Schweden zwar genauso wie in Deutschland. Die treffen aber auf eine andere Gesellschaft.

Sind soziale Medien Chance oder Risiko für den Journalismus und die Pressefreiheit?

Es ist beides. Gerade wenn wir über Russland sprechen, ist YouTube im Moment fast der einzige Social Media Kanal, der nicht blockiert oder zensiert ist. Und hat dadurch tatsächlich echtes Freiheitspotenzial, weil dort unabhängige Informationen verbreitet werden können. Da haben die Plattformen umso mehr eine öffentliche Verantwortung. Wenn wir das so und wenn wir das mal politisch, juristisch durchdenken, heißt das, sie konstruieren Öffentlichkeit. Und wenn sie Öffentlichkeit konstruieren, dann müssen die auch letztlich anderen Regularien unterliegen.

Es ist kein neues Problem mehr, dass die sozialen Medien ihre eigenen Regeln aufstellen. Gibt es da mittlerweile schon Ansätze aus der Politik?

Es gibt auf europäischer Ebene einen „Digital Services Act“ , der aus zwei Gründen zumindest an einigen Stellen in eine richtige Richtung geht. Zum einen ist es einmal ein europäischer Rahmen und hat dadurch eine große Reichweite, wenn er denn so in Kraft treten sollte. Er kann dadurch vielleicht auch Standards setzen. Zum anderen, weil an einer Stelle Unternehmen auch zu mehr Transparenz ihrer Daten und ihrer Algorithmen gegenüber Forschung verpflichtet sind. Um mehr darüber zu erfahren, wie Informationen oder Falschnachrichten wirken.

Auf welche Herausforderungen für freie Berichterstattung müssen wir uns in Deutschland und Europa aktuell und in Zukunft noch einstellen?

Wir haben nach wie vor keine wirklich gute Regulierung für Desinformation. Desinformation ist eine Herausforderung für unabhängige Information, für unabhängige Berichterstattung. Die Sichtbarkeit von unabhängiger Berichterstattung wird herausgefordert im digitalen Raum durch Desinformation. Ansonsten ist schon die große Herausforderung, dass wir eine Zunahme von Gewalt sehen und dass ich nicht weiß, wo das hinführt.

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