Natur – Warum begeben wir uns in die Natur? Um unseren Kopf freizubekommen? Um frische Luft einzuatmen? Um uns zu bewegen und dem Alltag zu entkommen? Während der Corona-Lockdowns habe ich die Naturspaziergänge wieder für mich entdeckt. Doch die Spaziergänge an denselben Orten haben irgendwann auch nicht mehr geholfen. Immer wieder läuft man dieselben Strecken und alles sieht jedes Mal so gleich aus. Dieselben Bäume, Äste, Sträucher – man kennt’s. Und man hat all das nicht nur hier, sondern auch auf etlichen anderen Spaziergängen in der Natur schon gesehen. An manchen Tagen fällt es schwer, die Blicke auf die schönen Seiten unseres Lebens zu lenken und die besonderen Wunder dieser Welt zu genießen.
Ästhetik – Auch wenn die schönen kleinen Details manchmal gut versteckt sind. Ästhetik findet sich überall in der Natur wieder. In dem Wirrwarr von Wald und Wiese ist sie auch mal schwer zu erkennen. Sich die Zeit und Geduld zu nehmen, um mich auf die kleinen besonderen Details einzulassen fällt mir manchmal schwer. Doch wenn ich es schaffe und anfange die Bäume, die Büsche, Blätter, Äste und Sträucher genauer zu betrachten, fühlt es sich an, als würde ich tatsächlich in den Wald hineintauchen und mich in ihm verlieren.
Wald – Der Auwald am Rhein ist ein ganz besonderer Wald. Er ist der Urwald unter den deutschen Wäldern, hat meine Mutter mir immer gesagt, als wir unsere kausgedrehnten Spaziergänge am Rheinufer unternahmen. Ein unberührter Fleck Natur und voller Schätze. Wenn man durch seine kleinen Pfade schleicht, knackt es unter den Füßen und spürt die wilde Natur. Das Totholz legt einen weichen Teppich unter die wild-wachsenen Bäume und es tummelt sich lauter Leben in ihm.
Baum – Einer fällt mir besonders ins Auge. Der massive Stamm liegt lang gestreckt auf dem Boden und versickert nach und nach in dem darum liegenden Gestrüpp. Der massive Baum muss einmal eine mächtige Größe gehabt haben. Der Stamm ist so kräftig, dass nicht einmal große Menschen ihn mit ihren Armen einmal umfassen hätten können. Wahrscheinlich räkelte sich der kräftige Riese einst majestätisch gegen den Himmel und überkrönte die alle anderen Bäume und Pflanzen in diesem Wald. Nun liegt der gewaltige Stamm am Boden und um ihn herum sammelt sich weiteres Totholz, welches herabgefallen ist und nun nach und nach vermodert.
Vermodern – ein Wort, bei dem ich erst einmal die Nase rümpfen muss. Es erinnert mich an altes Obst, das lieber weggeschmissen werden sollte oder ein altes Haus, in dem es nicht mehr ganz so frisch riecht. Modrige Dinge möchte ich lieber aus meinem Leben halten – in der Regel kann das nicht gesund sein. Doch hier im Wald riecht es ganz anders. Es ist sehr kalt und am Morgen war es sehr nebelig – jedoch nicht so kalt, dass es gefroren hat. Alles um mich herum ist feucht. Der Baum, der Boden, das Gestrüpp. Und es riecht modrig hier, aber nicht schlecht – eher sehr frisch, wie Tropenholz in einem Terrarium – zwar modrig, aber gesund und voller Leben. Es erinnert mich an Zoobesuche in den tropischen Abteilungen. Bund, laut, grün und lebendig. Es riecht süßlich und irgendwie nach frischer nasser Erde. Feuchte Erde, mit feuchten Pflanzen und einem gesunden Lebensraum.
Details – Auf dem Waldboden habe ich einen kleinen alten Ast gefunden. Er hat seine ganz individuelle Ästhetik. Gleichzeitig verdeutlicht er die Individualität und Diversität des Waldes auf eine besondere Weise. Auf dem Stück hat sich nach und nach ein kleiner Mikrokosmos gebildet – ein dicker, dichter und weicher Mantel aus Flechten, Moos und anderen Gewächsen. Sie haben die dunkle Rinde beinahe vollständig eingenommen, sodass die, in braun und schwarz gestreifte und gepunktete Fläche, kaum noch zu erkennen ist. Das Gewächs breitet sich nach und nach in verschiedenen Grüntönen über der Oberfläche aus. Von hellen, grasgrünen, gelben und weißen Pigmenten, türkisblauen Pastelltöne bis zu satten, saftigen und dunkelgrünen Farbflächen. Die verschiedenen Formen der Geflechte sind tatsächlich noch abwechslungsreicher als die Farbpalette der verschiedenen Gewächse. Kleine runde Ufus räkeln ihre Ränder leicht in die Luft, sodass sie aussehen wie kleine Teller, die in ihnen gerne etwas Wasser auffangen möchten. Unter ihnen kriechen weitere, größere Flechten in derselben giftgrünen Farbe blätterartig weiter über das Holz. Mit seinen kleinen Rissen und Fältchen sieht das giftgrüne Gewächs so aus, als hätte man Plastik in den Ofen gesteckt, damit es sich zusammenzieht und verschrumpelt. Jedoch muss die Form dieses Gewächses auf ganz andere Art und Weise entstanden sein. Hier sieht es so, als würde es langsam immer weiter über den Stamm kriechen und sich gemütlich einnisten. Desto näher man mit dem Auge rangeht und desto länger man es beobachtet, desto mehr erinnert die Struktur dieser Flechten an eine fiktive oder außerirdische Landschaft mit exotischen Gewächsen und ungewöhnlichen, kreativen Formen. Die verschiedenen Formen gehen ineinander über und verwachsen miteinander. Die giftgrüne, runde, alienhafte Flechte verwuchert sich mit dem dunkleren sattgrünen, weichen, flauschigen Moos. Aus ihm räkeln sich einzelne Ärmchen eng aneinander, empor bilden ein kleines weiches Kissen auf einem kleinen runden Fleck. An den einzelnen Ärmchen spreizen sich kleine sternförmige Spitzen ab. Obwohl sie glatt und spitz sind, sind sie so klein und zart, dass sie sich ganz weich anfühlen – wie ein wolliges Kissen mit flauschigem Bezug, in das man sich hineinkuscheln möchte. Während die unteren Spitzen dunkelbraun bis fast schwarz sind, werden sie zur Spitze hin immer grüner.
Zeit – Desto länger ich diesen Ast betrachte, desto mehr Fragen kommen in mir hervor. Ich frage mich, wie lange dieser Ast hier wohl schon liegt? Einige Tage, Wochen, vielleicht sogar über ein Jahr? Holz braucht tatsächlich einige Jahre, bis es sich vollständig zersetzt hat und seinen Kreislauf in der Erde wiederfindet. Die Rinde blättert tatsächlich schon etwas ab, sodass der nackte Stamm des Astes offenbart wird. Anstelle der Rinde sind teilweise die Geflechte erwachsen und bedecken den Stamm mit einer neuen Haut. Wie diese eigenartigen Geflechte wohl herkommen? Und was könnte ihr nutzen wohl sein? Man kann sie überall hier im Wald finden – sie wachsen auf fast allen Bäumen und Sträuchern. Ihre Formen und Muster und Farben faszinieren mich. Wie lange es wohl gedauert hat, bis sie zu dem geworden sind, wie ich sie gefunden habe. Im Gegensatz zu anderen Pflanzenarten wachsen sie sehr langsam. Es muss einige Zeit gedauert haben, bis sie diesen alten toten Ast auf dem Boden des Waldes so verschönert haben. Wenn man mit den Fingern drüber fährt, fühlt es sich ganz leicht und zerbrechlich an. Mit ein paar groberen Handbewegungen würde es sofort vom Stamm abfallen. Damit wäre mit einer einzigen Handbewegung so viel Schönheit in so kurzer Zeit zerstört worden. Ein unbedachter Tritt mit dem Fuß auf den Ast und er wäre nicht mehr derselbe gewesen, den ich nun voller Bewunderung in meiner Hand betrachten kann. Wie entstehen solche verrückten Muster bloß? Es ist, als hätte die Natur eine Design-Agentur beauftragt, um jeden einzelnen Millimeter ihrer Elemente genauestens zu gestalten. Doch das ist natürlich völliger Unsinn. Die Natur wächst, verändert sich und passt sich an – und wir können uns von ihr inspirieren lassen.
Zuhause – Meine Mutter sammelt gerne solche Äste, Flechten und andere kleine Schmuckstücke aus dem Wald und dekoriert Haus und Garten damit. Einige Male konnte ich mein Zimmer mit einem kleinen Mitbringsel schmücken. Nicht weit von unserem Zuhause am Rhein liegt ein weiterer Auenwald. Er ist nicht groß und ich kenne ihn bereits wie meine Westentasche – von unzähligen Ausflügen in meiner Kindheit. Wir haben Spiele gespielt, Bäume gepflanzt und im Rhein gebadet. Wir konnten den Wald auf unsere ganz eigene Art und Weise kennenlernen. Heute gehe ich immer noch oft mit meinem Hund hier spazieren und kann beobachten, wie sich der Wald verändert. Auch wenn ich jeden Weg und jede Ecke kenne – irgendwas ist immer wieder ein bisschen anders. Die Natur ist kein statischer Gegenstand, der einfach nur da ist – nicht wie ein Gebäude oder ein Möbelstück, das irgendwann einmal von uns Menschen zu unserem eigenen Nutzen erschaffen worden ist. Nein, die Natur lebt und sie bewegt sich ständig. Sie ist wie ein Kompagnon, der zusammen mit uns existiert – und die man täglich und immer wieder neu entdecken kann. Auch wenn ich mich nach einem langen Tag gerne in mein warmes und trockenes Haus flüchte um es mir dort gemütlich zu machen – wenn ich zurück in die Natur gehe, fühlt es sich dort ebenso wie ein Stück Zuhause an.