Fachliche Spezialisierung nötig
Ein zweiter Aspekt war die Notwendigkeit zur Spezialisierung: Die thematische Spezialisierung allein entsprach zunehmend weniger den Anforderungen, denen sich Greenpeace gegenübersah. Hinzukommen musste eine Spezialisierung in der Recherche, weil allein der Umgang mit fachspezifischen Datenbanken, sei es im Bereich Wirtschaftsdaten, Patentanmeldungen oder Schiffsdatenbanken, ein Fachwissen und eine Übung erfordern, die die Campaigner nicht mitbringen können und für die sie sich im Regelfall auch nicht interessieren.
Die Rechercheeinheit bei Greenpeace Deutschland ist mit drei Festangestellten (ein Agrarökonom, ein promovierter Chemiker, ein promovierter Politikwissenschaftler und Journalist) recht klein. Hinzu kommen allerdings feste Freie mit Rahmenvertrag, vergleichbar mit Pauschalisten im Journalismus, sowie weitere Freie aus den Arbeitsfeldern Wissenschaft, Journalismus oder NGOs, die je nach gesuchter Expertise unter Vertrag genommen werden. Seit zehn Jahren verfügt auch Greenpeace International in Amsterdam über eine solche Rechercheeinheit, die neben eigenen Projekten vor allem die Rechercheaktivitäten in den weltweiten Büros koordiniert. Selbstverständlich recherchieren bei Greenpeace auch weiterhin – aber eben nicht nur – die Campaigner, von denen es im deutschen Büro allein 30 gibt. Sie verfügen über wertvolle Fachkontakte zu Wissenschaftlern und Mitarbeitern in Behörden und in der Politik.
Unterschiede zur Recherche im Journalismus
Natürlich nutzt Greenpeace zunächst einmal sämtliche methodischen Verfahren, die auch bei der journalistischen Recherche zum Tragen kommen. Dies gilt etwa für die klassischen Hinweise zum Recherche- Vorgehen wie der Quellen-Befragung von außen nach innen, gemäß der von Michael Haller entwickelten Systematik. (2) Dass es eine intensive Rezeption der handwerklichen Regeln aus dem Journalismus gibt, drückt sich auch darin aus, dass in Deutschland unter den wenigen Recherche-Trainern in der Aus- und Weiterbildung von Journalisten al- lein drei ehemalige oder derzeitige Greenpeace-Mitarbeiter zu finden sind. Desgleichen dürfte es kein Zufall sein, dass auch bei den wenigen Büchern zur Recherche zwei von Greenpeace-Mitarbeitern stammen. (3)
Dieser Sachverhalt spiegelt bereits, dass die Konzentration auf die alleinige Aufgabe der Recherche eine intensivere Reflexion über das handwerkliche Vorgehen zulässt, während sich recherchierende Journalisten oft nicht so sehr über die Methodik der Informationsbeschaffung definieren, sondern über ihr inhaltliches Spezialgebiet oder über das Schreiben bzw. die filmische Umsetzung. Allein die Spezialisierung auf die Recherche ist somit eine Besonderheit, die im Journalismus erst in jüngerer Zeit mit der Einrichtung von Recherchepools wie beim NDR oder SWR aufgegriffen wurde. Darüber hinaus gibt es einige weitere Spezifika, die mit der Arbeitsweise von Greenpeace verknüpft sind.
Themen, die Greenpeace nicht bearbeitet
Als Umwelt-NGO hat Greenpeace einen klaren Arbeitsfokus, noch dazu begrenzt auf ganz bestimmte Themenfelder der Umweltpolitik. So kümmert sich die Organisation nicht um klassische Tierschutzfragen oder regionale Naturschutzthemen, sondern um globale ökologische Probleme. Diese Spezialisierung unterscheidet Greenpeace von den typischen journalistischen Arbeitsfeldern, denn selbst wenn eine Redaktion sich vielleicht glücklich schätzen kann, einen der wenigen hauptberuflichen Umweltjournalisten zu beschäftigen, so muss dieser das gesamte Spektrum der Umweltpolitik abdecken. Die Spezialisierung geht mit einer deutlich intensiveren Kontaktpflege zu Fachleuten und sonstigen Akteuren einher, die zugleich wichtige Quellen sein können, wenn es darum geht, an interne Informationen zu gelangen. Hinzu kommt, dass Greenpeace es sich leistet, über sehr viele Jahre an Themen dranzubleiben, während die journalistischen Konjunkturen oft kürzeren Zyklen unterliegen.
Dazu ein Beispiel: Das Thema Giftmüllexporte hat Greenpeace über etliche Jahre bearbeitet, mit zwei Campaignern allein im deutschen Büro und Kollegen in auslän- dischen Greenpeace-Büros, deren Länder z.T. auch „Empfänger“ des aus Deutschland exportierten Giftmülls waren. Eine Entsprechung auf journalistischer Seite, also ausgewiesene Themenexperten unter den Medienvertretern, gab es allerdings nicht: Dort berichtete z.B. ein Schweizer ARD-Korrespondent, wenn in Basel über die neue UN- Konvention gegen Giftmüllexporte berichtet wurde, und aus Rumäni- en der Osteuropa-Korrespondent, wenn dort plötzlich deutscher Müll auftauchte, der illegal entsorgt worden war. Bei Greenpeace handelte es sich dagegen immer wieder um die gleichen Personen, die kontinu- ierlich an einem Thema dranbleiben konnten. Die Arbeitsstrukturen erweisen sich somit als deutlich unterschiedlich, weil der Journalismus im Regelfall weniger Themenspezialisierung zulässt.
Starke Internationalität
Wenn Greenpeace eine Recherche zu einem globalen Umweltthema an- geht, kann dabei stets auf das internationale Netzwerk der mehr als 40 Greenpeace-Büros zurückgegriffen werden. Nun könnte man einwenden, dies sei bei etablierten Medienhäusern mit ihrem Korrespondentennetzwerk ja nicht anders. Allerdings ist hier in Rechnung zu stellen, dass normale Korrespondententätigkeit heute mit so vielen aktuellen Berichtsanlässen verbunden ist, dass eine wochenlange „Amtshilfe“ für eine Einzelrecherche der Heimatredaktion kaum denkbar ist. Bei Greenpeace unterstützt aber gerade dieses Ineinandergreifen der Rechercheschritte in den einzelnen Büros die Arbeit.
Als etwa im Frühjahr 2010 in 24 Ländern gleichzeitig eine Kampagne gegen Nestlé startete, um den Lebensmittelhersteller zum Ausstieg aus der Verarbeitung von Palmöl aus Urwaldzerstörung zu bewegen, waren dem zweieinhalbjährige vergebliche Gespräche mit der Firma und intensive Recherchen vorausgegangen: Ansatzpunkt war die Ausweitung der Palmölanbau- flächen in Indonesien, das dadurch jedes Jahr zwei Prozent seiner Urwaldfläche verliert. Die im Ursprungsland gut dokumentierte Urwaldzerstörung ließ sich der in Indonesien operierenden Firma Sinar Mas zuordnen, die wiederum an die internationale Handelsfirma Cargill liefert. Über Cargill war auch Nestlé Abnehmer des Palmöls, das u.a. für den Schokoriegel Kit-Kat eingesetzt wurde. Dieses bekannte Markenprodukt hat Greenpeace in der Folge in den Mittelpunkt der Urwaldkampagne gestellt. Diese Lieferkette hätte sich nicht ohne Weiteres etablieren lassen, wüsste Greenpeace nicht sehr genau über die Bedingungen in Indonesien und die von dort ausgehenden Handelsströme Bescheid. Eine Recherche allein von Deutschland aus wäre hier ins Leere gelaufen.
Verdeckte Recherche, falls zu legitimieren: ein Fallbeispiel
Greenpeace setzt gelegentlich auch verdeckte Recherchemethoden ein, soweit diese ethisch gerechtfertigt werden können. Hier orientiert sich die Organisation an den Kriterien, die auch der Deutsche Presse- rat zugrunde legt: Die verdeckte Recherche muss einer Information von hoher öffentlicher Relevanz gelten, die auf anderem Wege nicht erlangt werden kann. Diese verdeckte Vorgehensweise spielt naturgemäß auch bei den Aktionen von Greenpeace eine Rolle: Schon eine der frühen Greenpeace-Aktionen in Deutschland, die Besetzung des Schornsteins von Boehringer in Hamburg aus Protest gegen die hohe Dioxinbelastung, die von diesem Unternehmen ausging, war nur möglich, weil die Aktivisten mit einem Lieferwagen direkt auf das Grundstück gefahren waren und beim Pförtner einen fingierten Lieferschein der Firma „Friedemann Grün“ präsentiert hatten.
Ein typisches Beispiel für eine verdeckte Recherche ist das Vorgehen, als Greenpeace die verheerenden ökologischen und gesundheitlichen Folgen der Verschrottung von alten Handelsschiffen in Indien dokumentiert hat. Weil die Umweltstandards in vielen asiatischen Ländern sehr lax bis gar nicht existent sind, ist es für die Reeder ein gutes Geschäft, zur Verschrottung anstehende Schiffe dorthin zum Abbruch zu verkaufen. Während die Entsorgung von Asbest und Altölen in Europa sehr teuer ist, kann in Indien noch ein Millionen-Erlös für Abbruchschif- fe erzielt werden, denn das Altmetall wird weiterverkauft, und Vorkehrungen zum Schutz der Arbeiter oder zur umweltgerechten Entsorgung von Problemstoffen gibt es de facto kaum.
Damit dieses Thema für deutsche Medien interessant wurde, musste zunächst ein deutscher Fall dokumentiert, also ein direkter Link in die Bundesrepublik etabliert werden, auch wenn der Verkauf zumeist über Mittelsmänner geschieht. Den Durchbruch brachte hier eine sorgfältige Analyse, welche Stellen eigentlich an diesem Handel irgendwie beteiligt sind bzw. über Informationen verfügen. Durch die Auswertung von Presseartikeln über frühere Schiffsexportfälle und erste Gespräche mit Brancheninsidern wurde schnell klar, dass über die zentralen Akteure (Reeder, Schiffsagenten, Makler, Abwrackbetriebe in Indien) sicherlich nichts zu erfahren war. Dieser kleine Kreis von unmittelbar Betroffenen wusste, was er durch Publizität zu verlieren hatte. Andere Stellen, die über Daten verfügten, wie etwa der Zoll, waren nicht zur Herausgabe befugt. Im Lager der Kritiker (andere NGOs, Seefahrer-Gewerkschaft, UN-Gremien oder auch Konkurrenten der indischen Abwrackbetriebe) fehlte es zumeist an ausreichendem Wissen über die Links nach Deutschland.
Aber bei einer systematischen Analyse sämtlicher Stellen, die irgendwie involviert waren, wurde schließlich klar, dass alle notwendigen Informationen beim Schiffsversicherer Lloyd‘s zusammenlaufen mussten: Dort waren die Liegeorte der Schiffe bekannt, ihre letzten Eigner und auch das Abmeldedatum bei der Versicherung – denn für ein verschrottetes Schiff wurde selbstverständlich keine Versicherungspolice mehr gezahlt. Gleichzeitig erschien der Schiffsversicherer als des Rechercheurs liebste Quelle, denn bei ihm fällt eine hohe Fachkompetenz mit einer hinreichenden Neutralität bei diesem Thema zusammen.
Schiffsverschrottung – wie geht das? Rekonstruktion eines ganzen Systems
Der Weg zur Lösung des konkreten Rechercheproblems bestand somit zunächst in der Rekonstruktion des „Systems Schiffsverschrottung“ (wer ist involviert, wer verfügt über welche Kom- petenzen und Informationen?) und dann in der Auswahl der erfolgversprechendsten Quellen gemäß der Rechercheregel, nach Möglichkeit von außen nach innen vorzugehen und dabei ein besonderes Augen- merk auf nicht direkt involvierte Experten zu legen.4
Die verdeckte Recherche wurde als nächster Schritt notwendig, weil sich über den Versicherer zwar ermitteln ließ, wann Schiffe mit deutschen Eignern ihre Endstation Alang erreicht hatten, einen großen Abwrackhafen in Indien. Aber aus Presseberichten und über die indischen Kollegen war sehr klar, dass Journalisten oder NGO-Vertreter auf gar keinen Fall auf das Gelände gelassen würden. Da allein durch Arbeitsunfälle in Alang damals jeden Tag ein Toter zu beklagen war, scheuten die Unternehmen die Öffentlichkeit.
Greenpeace hielt in diesem Fall ein verdecktes Vorgehen aufgrund der eklatanten Missstände für gerechtfertigt und ging von der Überlegung aus, dass eine Rolle gewählt werden sollte, die folgende Kriterien erfüllt:
▸ Sie darf für den Betreiber der Abwrackwerft nicht bedrohlich sein, sondern sollte seiner eigenen Interessenlage entsprechen (Journalisten könnten z.B. bedrohlich sein; ein Geschäftsinteresse wäre dagegen förderlich)
▸ Die Rolle sollte zu allen notwendigen Informationen führen (möglichst Bewegungsfreiheit auf dem Abwrackgelände; direkter Zugang zu deutschen Schiffen, um unbeobachtet Proben von Schadstoffen zu nehmen; Möglichkeit zum Fotografieren für die Dokumentation der Verhältnisse und die Umstände der Probenahme)
▸ Sie muss leicht spielbar sein und ein geringes Enttarnungsrisiko mitbringen, also idealerweise dicht an der Realität bleiben (das Auftreten als Schiffsverkäufer würde z.B. sehr viel Kontextwissen voraussetzen und wäre in einer kleinen, eng vernetzten Szene mit einem hohen Entdeckungsrisiko verbunden)
▸ Die Rolle darf ethisch oder gesetzlich keine Probleme aufwerfen (das schließt z.B. jegliche Form der Amtsanmaßung wie etwa als Zollinspektor oder auch die in Indien nicht ungewöhnliche Zahlung von Schmiergeld aus)
Als Touristen getarnt auf Informationssuche
Ein Durchdeklinieren dieser Kriterien führte dann zu der Entscheidung, bei der Abwrackwerft als Gruppe deutscher Touristen aufzutreten, die dem „Verein der Freunde großer Handelsschiffe“ angehören und gerne für ihr Vereinsheim in Hamburg Aufnahmen deutscher Schiffe machen sowie einige Andenken erwerben möchten, etwa ein Steuerrad oder Einrichtungsdetails aus der Kapitänskajüte. So war einerseits eine nicht bedrohliche Rolle gewählt, die auch das Fotografieren und Filmen zuließ sowie zwingend das Betreten der Schiffe voraussetzte. Gleichzeitig entstand mit der Ankündigung, Kleinigkeiten kaufen zu wollen, die in Indien anderweitig schwer weiterzuveräußern wären, ein Interesse für den Manager der Werft, die überraschenden Besucher tatsächlich auf das Gelände zu lassen.
Auf diese Weise ist die Dokumentation am Beispiel eines deutschen Handelsschiffes lückenlos gelungen, einschließlich der Entnahme von etlichen Asbestproben, die in einem Hamburger Labor analysiert wurden. Die Bilder von Arbeitern, die mit bloßen Händen und ohne jeden Atemschutz nassen Asbest zum Trocknen in der Sonne zerbröselten, um ihn hinterher als Isoliermaterial weiter zu verkaufen zu können, wurden später in einem Magazinbeitrag von Report Mainz verwendet. Auch der „Spiegel“ hat ausführlich über die Rechercheergebnisse be- richtet und damit das Thema Schiffsverschrottung erstmals auf die politische Agenda gesetzt.
Die Recherchemethodik orientierte sich bei diesem Beispiel ganz klassisch an gängigen journalistischen Verfahren und Kriterien, nur dass diese schon wegen des Aufwands bei Print- oder elektronischen Medien nur noch selten zum Einsatz kommen. Außerdem ist das Fallbeispiel wohl ein guter Beleg dafür, dass bei der Recherche idealerweise zwei Komponenten zusammenfließen sollten: Systematik einerseits (Ableitung der potenziellen Quellen und Identifizierung der aussichtsreichs- ten Quellen für den eigenen Informationszweck) und Kreativität andererseits (Entwickeln der passenden Idee für die verdeckte Recherche).