Von Jonathan Linker und Peter Seeger
Das Gelingen der mehrheitlich gewollten Umstellung des deutschen Energiesystems von fossilen auf erneuerbare Energien und die Abkehr von der Atomenergie hängen in den Augen vieler Deutscher davon ab, ob die politisch Verantwortlichen und die Ingenieure einen guten Job machen. Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt bräuchte demnach nur einen guten Masterplan. Der Atomausstieg und der technische Umbau sollen einfach gelingen und bezahlbar sein. Der Politologe Claus Leggewie spricht bei dieser verkürzten Sichtweise der Energiewende von einem “Top-down-Ingenieurprojekt” und sagt: “Das reicht nicht”.
Das reicht deshalb nicht, weil die Wende der Energieversorgung nicht allein durch technische und ökonomische Veränderungen zu erreichen ist. Die hat es so immer schon gegeben. Die Energiewende ist eines der größten gesellschaftspolitischen Projekte der Nachkriegszeit – das kann nur gelingen, wenn die sozialen Komponenten stärker berücksichtigt werden.
Fehlerkorrekturen statt Masterplan
Die Energiewende bedeutet auch die Abkehr von industriellen Oligopolen zu Gunsten dezentraler und demokratischer Systeme, die kaum planbar sind – und deshalb Raum für Anpassungen und Fehlerkorrekturen an Stelle eines starren Masterplans brauchen.
Diese Transformation des Energiesystems ist ein Lernprozess für alle gesellschaftlichen Akteure und jeden einzelnen Menschen. Verbraucher werden zu Erzeugern von Energie und vermarkten Strom zunehmend auch selbst. Die gesellschaftlichen Rollenbilder im Energiesystem verändern sich und verändern so den Energiemarkt parallel zu technischen Innovationen. Wir bräuchten ein neues Design für den Strommarkt, fordert deshalb z.B. die Energieexpertin Kirsten Westphal.
Im Strombereich bedeutet dieser Wandel auch, dass wir wegkommen von der falschen Vorstellung, wir hätten unendlich viel und billige Energie. Zumal diese weiterhin von einigen wenigen Konzernen mit trägen Kohle- und Atom-Großkraftwerken (zentrale Strukturen) samt all ihrer Risiken und Umweltbelastungen und zu hohen versteckten Kosten (z.B. externalisierte Umweltkosten) bereitgestellt wird.
Die Energiewende bezieht sich also nicht nur auf Ziele zum zügigen Ausbau der Erneuerbaren Quellen. Auch der Umbau von Handel und Transport der neuen Energie, Einsparungen im Wärmebereich, sinkender Stromverbrauch und mehr Energieeffizienz sind Teil der Wende – kommen in der Öffentlichkeit und den Medien aber oft zu kurz. Der Verkehrsbereich wurde weitgehend ausgeklammert, was Journalistinnen und Journalisten ebenfalls nur selten thematisieren. Warum steht das Thema Verkehrswende nur selten im öffentlichen und medialen Fokus? (siehe auch Themenschwerpunkt Neue Mobilität)
Etappen zur Energiewende
Die Wurzeln der Energiewende reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Damals bereits kämpfte die aufkommende Ökobewegung für einen Ausstieg aus der Atomenergie und für eine nachhaltige Energieversorgung. Gleichzeitig hatte der Club of Rome eine Diskussion über die begrenzten Ressourcen und Verteilungskämpfen angestoßen. Beide Themenstränge lösten durch atomare Katastrophen (u.a. Three Mile Island 1979, Tschernobyl 1986, Fukushima 2011) und Preisexplosionen beim Öl immer wieder Medienhypes aus.
Besonders spektakulär für die mediale Berichterstattung waren 1973 autofreie Sonntage als Strategie zur Benzineinsparung: “Wenn der Scheich es will, stehen alle Räder still” (Spiegel 25.11.1973). Neue Impulse für die Berichterstattung zum Thema lieferten die aufkommenden Diskussionen zum Klimawandel und zu anderen Umweltbelastungen (Feinstaub, Lärm) durch unsere Produktions- und Lebensweise – gute Argumente für einen möglichst schnellen Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung.
Der Begriff Energiewende wurde Anfang der 1980er Jahre vom Freiburger Öko-Institut geprägt: 30 Jahre lang ein Kampfbegriff, ist er heute ein politischer Konsensbegriff. Maßgeblich für den rasanten Ausbau der Erneuerbaren ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) der rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahre 2000, das die vorrangige Einspeisung erneuerbarer Energie ins Netz und die garantierte Vergütung des Stromes regelt.
Heute müssen noch fast alle Brennstoffe importiert werden: Uran zu 100 Prozent, Erdöl zu rund 100 Prozent, Erdgas zu 96 Prozent und Steinkohle zu 88 Prozent. Die Kosten hierfür betrugen bis zum Jahr 2012 Schätzungen zufolge 100 Milliarden Euro
Die Gesellschaft insgesamt und viele Menschen werden mittel- und langfristig von der Energiewende profitieren. Einige wenige werden zwar verlieren, wie die etablierten Kraftwerksbetreiber, deren bisheriges Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert. Der angekündigte Ausstieg vom Energierießen eon aus dem Kohle- und Atomstromsektor ist ein erstes deutliches Anzeihen in diesem Wandel. Aber ohne eine Energiewende und weitere Maßnahmen wäre der Atomausstieg nicht möglich und wir könnten weder dem Klimawandel noch dem Peak Oil (Ende des billigen Öls) entgegentreten. Es geht also um viel mehr als nur um die Art der Energieerzeugung.
Dimensionen des Energiethemas
Energieträger (primär)
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Energienutzung
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Netze und Speicher
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Energieeffizienz
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Ökonomie
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Ökologie
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Soziales
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Auf gruener-journalismus.de fassen wir diese Themen im Schwerpunkt „Energie für alle” zusammen. Der Schwerpunkt ist eine Klammer für technische, ökonomische, politische und soziale Aspekte, für die Transformation des gesamten Energiesystems und die Frage, wer dabei welche Rolle spielt und welche Interessen sich durchsetzen. “Energie für alle” soll zum Ausdruck bringen, dass alle, die aus ökologischen, ökonomischen oder anderen Gründen Interesse daran haben, schon heute selbst Energie produzieren und handeln können. Perspektivisch kann jeder die Stromnetze für die Übertragung von Energie so frei nutzen, wie es heute mit dem Internet für den Informationsaustausch oder mit den Straßen- und Schienennetzen für die Fortbewegung schon der Fall ist.
Energie für alle: Anspruch, Realität, Chancen
Der Vertrieb von Strom aus kleinen, dezentralen Anlagen wie Solardächern oder Kleinwindkraftanlagen, auch durch die Kombination zu virtuellen Kraftwerken, steckt noch in den Kinderschuhen. Mit dem Ende der Vergütungszeiträume wird sich dieses Muster aber stärker ausbreiten: Nachdem sich die Erzeugung erneuerbarer Energien, die Steigerung der Effizienz elektrischer Verbraucher und das Bewusstsein für Energie als ein knappes Gut stark gewandelt haben, kann die Bündelung, Verteilung und Vermarktung von Strom der nächste große Schritt im Prozess der Energiewende sein und die Energieversorgung demokratisieren. Analogien zur Entwicklung des Internets könnten im Journalismus viel stärker genutzt werden, um den Menschen die Bedeutung des Umbaus des Energiesystems zu veranschaulichen. Energie für alle verweist aber auch auf die globale Dimension des Themas: Ein Menschenrecht auf Energie ist keineswegs selbstverständlich.
Noch immer haben weit mehr als eine Milliarde Menschen weltweit keinen Zugang zu Strom. Für sie eröffnet vor allem die dezentrale Solartechnik neue Chancen für ein selbstbestimmtes Leben. Auch fernab der Stromnetze kann zu immer günstigeren Preisen Sonnenstrom gewonnen und gespeichert werden. Die Module und Geräte gibt es in allen Leistungsklassen und die Montage ist auch für Laien kein Problem.