Noch ganz deutlich kann sich der Wilhelm Kraus an seine erste Nacht im Wald erinnern, die erlebte er lange vor seiner Zeit als Bushcrafter, der heute ist. Ein Überlebenskünstler, Survival-Fan, Waldmensch durch und durch. Als Wilhelm jung war und seinen Wehrdienst leistete, verbachte Wilhelm dort seine erste Nacht im Freien: Am Abend hatte er sich auf einen Panzer zum Schlafen gelegt. Als er am nächsten Morgen wieder erwachte, war alles um ihn herum mit Schnee bedeckt, es hatte über Nacht geschneit.
Heute schläft Wilhelm oft draußen, unter Bäumen, die er liebt. Ursprünglich wollte ich den ehemaligen Chemieingenieur, der viele Jahre an der Hochschule Darmstadt arbeitete, zu seiner Baumpatenschaft interviewen. Denn er hat an der Baumpflanzaktion, die vom Forstamt Darmstadt ins Leben gerufen wurde, teilgenommen. Für seine Enkelin hatte er auf einer Waldschneise einen Baum gepflanzt, wollte einen „besonderen Erinnerungspunkt“ für sie schaffen, der vielleicht 200 Jahre alt wird. „Wenn ich nicht mehr bin“, sagt er, „soll meine Enkelin eine Erinnerung an mich haben.“ Für ihn ist der Wald dafür der richtige Ort, denn er Wald ist schon immer Teil von Wilhelms Leben.
Als ich mich mit Wilhelm Kraus im Wald verabredete, wusste ich bereits, dass mich wesentlich mehr erwarteten würde, als nur ein Naturfreund. Denn während meiner Recherche erfuhr ich von seiner wahren Leidenschaft – dem Bushcraften. Wilhelm erklärte mir in seinen Nachrichten, was Bushcrafting eigentlich ist, denn ich hatte davon noch nie etwas gehört. Er versprach, zu unserem Treffen seine Ausrüstung mitzubringen – ich sollte selbst die Gelegenheit ausprobieren, wie es ist, eine Schlafstelle im Wald aufzubauen und in einer Hängematte zwischen zwei Bäumen meiner Wahl hin und her zu schaukeln.
Pilzesammeln, Pfadfinder, Bundeswehr – immer war der Wald da
Schon als Kind nahmen ihn seine Eltern mit in den Wald. Gemeinsam gingen sie spazieren und Pilze suchen, das prägte ihn schon in frühen Jahren. Anschließend erlebte Wilhelm viele Abenteuer als Pfadfinder und später auch bei der Bundeswehr, die er scherzvoll als besserer Pfadfinderverein bezeichnet. Auch als Panzerfahrer erlebte der gebürtige Ostfriese, der auf der Insel Borkum aufwuchs, schöne Momente in der Natur – nicht nur den unverhofften Schneemorgen.
Die Naturverbundenheit gab er später auch an seinen Sohn weiter. Der war es auch, der Wilhelm vor drei Jahren auf eine Idee brachte, die sein Leben verändern sollte: Er zeigte ihm den Youtube Kanal von Kai Sackmann, dem Guru unter den Bushcraftern. Fasziniert davon, wie man mit einfachen Mitteln im Wald etwas machen kann, fasste Wilhelm Kraus den Entschluss, das auch auszuprobieren. „Ich dachte sofort: Das machst Du auch“, erzählt er heute. Eine Campingausrüstung hatte Wilhelm schon immer; auch, weil er sie für die vielen Radreisen brauchte, bei denen er „fast jeden Fluss abgefahren hat“, wie er sagt.
Nichts als Fußabdrücke
Seit drei Jahren ist Bushcraften nun Wilhelms Leidenschaft: Der Trend kommt eigentlich aus Amerika, wo man gut ausgerüstet in den Wald zieht und versucht, dort einen oder mehrere Tage zu überleben. Manche tragen Tarnkleidung und betonen die militärische Tradition des Überlebenstrainings; Wilhelm interessiert das nicht. Er will im Wald Stress abbbauen und „eins mit der Natur“ sein.
Dabei ist es ihm wichtig, keinen Abdruck in der Natur zu hinterlassen, getreu dem Leitsatz unter Bushcraftern: „Take nothing but photos, leave nothing but footsteps“. Das hat Wilhelms Bewusstsein geschärft; er achte immer mehr darauf, den ökologischen Fußabdruck möglichst klein zu halten, sagt er. Also wenig Strom zu verbrauchen und nur noch mit dem Fahrrad und dem Tretroller unterwegs zu sein. „Mit dem Roller bin ich in der Stadt manchmal schneller als die Radfahrer“, sagt der Darmstädter und grinst.
An seine erste Nacht im Freien erinnert sich Wilhelm ganz genau. Bis dahin war er nur als Spaziergänger im Wald unterwegs und hatte nie zuvor dort geschlafen. „Ich habe mit einer Baumarktplane begonnen, die woh zwei Kilo. Man merkt das Gewicht schon, deshalb habe ich nach den ersten Ausflügen auf leichtere Materialien umgestellt.“ Anfangs bestand seine Ausrüstung aus einfachsten Mitteln – mit ein paar Ästen, Seilen und der Plane baute Wilhlem sich sein Dach für die erste Nacht.
Erinnerungen an die erste Nacht
Sehr laut sei sein Debüt gewesen, erzählt Wilhelm. Die Geräusche kamen scheinbar aus allen Richtungen. In der Dunkelheit konnte er Vieles nicht zuordnen, und die meisten Laute kannte er überhaupt nicht. Er hörte Schreie wie von einem kleinen Kind, dazu die Rufe von Vögeln. Wilhelm wachte ständig auf und hörte Schritte um sich herum. Das Gefährlichste seien die Wildschweine, sagt er und hält inne. Wenn man den Frischlingen aus Versehen zu nahekommt, könne man sicher sein, „dass die Mutter ganz schön rabiat werde.“ Aber wenn man sie in Ruhe lässt, da lassen sie einen normalerweise auch in Ruhe.“
Mindestens einmal pro Monat schläft er im Wald, denn mit der richtigen Ausrüstung ist Buschcrafting zu jeder Jahreszeit möglich. Sogar bei Minustemperaturen übernachtet der Darmstädter Bushcrafter draußen. Es sei im Winter sogar besser, sagt Wilhelm: „Im Winter kommt es nur auf die richtige Ausrüstung an, im Sommer hingegen gibt es jede Menge Insekten. Ich habe im Sommer vor allem mit Stechmücken und dem gefährlichsten Tier, den Zecken, zu kämpfen.“
Zur Ruhe kommen
Trotz aller Gefahren schläft Wilhelm im Wald besser als zu Hause. Denn dort denkt er beim Einschlafen nicht an unliebsame Probleme des Alltags, unvermeidbare Verpflichtungen, Beziehungsprobleme und aufgeschobene To-Do-Listen. Hier lasse er sich ganz auf die Geräusche des Waldes ein, tauche ein in eine andere Sphäre. „Im Wald ist man ein anderer Mensch. Man achtet mehr auf die Natur, man ist im Einklang.“
Was Wilhelm am meisten stört, sind andere Menschen – Spaziergänger, Nachtwanderer und Hundebesitzer. Er möchte in Ruhe gelassen werden, „doch Menschen sind eben neugierig!“, betont er. Fortschicken könnten ihn höchstens Jäger oder Förster, die auch eine „polizeiliche Funktion haben“, wie er sagt. „Das ist zwar unwahrscheinlich, aber ich möchte es nicht erleben.“ Mehr beschäftigen ihn die Hundebesitzer, die noch spät abends unterwegs sind. „Von einem bellenden Hund aufgeschreckt zu werden, ist nicht schön.“
Wilhelm schläft am liebsten auf dem Boden, auf der Isomatte mit Überhang darüber. Es sollte flach sein, am besten mit Moosuntergund, denn Wilhelm liegt lieber auf dem Boden als in der Hängematte. In der Hängematte hat er sich schon bei Minus Fünf Grad verkühlt. „Wenn man in der Hängematte schläft, zieht der Wind untendrunter durch. Ich habe mir meine Nieren angekühlt und hatte mehrere Tage mit starke Schmerzen zu kämpfen.“ Nachts auf dem Boden kann es schon ganz schön kuschelig sein, wenn man sich gut eingepackt hat und die Wärme gut gespeichert wird. Wichtig ist möglichst nicht auf einem Ameisenhaufen oder in einem Sumpfgebiet das Lager aufzuschlagen, es sollte flach sein, sonst rollt man runter. Die Hängematte ist nur gut, wenn ich an einem Hang liege. Ich bin ja auch schon älter und muss Nachts öfters mal raus, da wäre es schwierig immer wieder in die Hängematte zurück zu klettern.“
Seine Lieblingsstelle im Wald ist der vorderste Kahle Berg
Der Vorderste Kahle Berg liegt in der Nähe des Oberfelds und des Rücksbrünnchens. „Mir gefällt die trotz der Nähe abgeschiedene Lage und die große Eiche, im Winter das stimmungsvolle Abendlicht und die Sicht nach unten, ohne dass man von dort gesehen wird.“ Weil der Ort ihm besonders gut gefällt, hat er dort auch schon gemeinsam mit seinem Sohn und seiner Enkelin Ronya eine Nacht im Wald verbracht.
Für Wilhelm ist der Wald eine Konstante in seinem Leben, die ihm Kraft gibt und ihn Ruhe finden lässt. Ganz egal in welchem Wald der Bushcrafter das Nächste Mal auf Übernachtungstour geht, er ist sich sicher, dass er dort findet wonach er sucht.
„Wald ist für mich eine Art zweite Heimat, eine Heimat die ich überall finde.“
von Joelle Wörtche