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Postwachstum als Schutz vor Konsum-Burn-Out

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„Unser Leben ist vollgepfropft mit Produkten, Dienstleistungen, Mobilität, Ereignissen und Kommunikationstechnologien. Es fehlt die Zeit, dies alles so „abzuarbeiten“, dass es einen spürbaren Nutzen erzeugt“, sagt Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech. (Quelle: Niko Paech)

Von Niko Paech

Bisherige Versuche, unser entgrenztes Konsum- und Mobilitätsmodell durch technischen Fortschritt ökologisch reinzuwaschen, sind nicht nur systematisch gescheitert, sondern haben sogar oft mehr neue Umweltschäden verursacht als bisherige beseitigt. Das zeigt eindrucksvoll die sog. „Energiewende“. Anstelle einer technologischen Aufblähung, die immer mehr Naturgüter planiert oder materiell nachverdichtet, hilft folglich nur jenes Prinzip, über das niemand gern redet: Reduktion! Aber würde uns ein Leben, durch das wir ökologisch nicht über unsere Verhältnisse leben, unglücklicher machen? Stress, Orientierungslosigkeit und Konsum-Burn-Out charakterisieren den Normalzustand moderner Bequemokratien, die längst zu einem Hort der Reizüberflutung mutiert sind. Während des letzten Jahrzehnts hat sich die Menge an Antidepressiva-Verschreibungen in Deutschland verdoppelt.

Unser Leben ist vollgepfropft mit Produkten, Dienstleistungen, Mobilität, Ereignissen und Kommunikationstechnologien. Es fehlt die Zeit, dies alles so „abzuarbeiten“, dass es einen spürbaren Nutzen erzeugt. Damit nämlich Konsumaktivitäten überhaupt Glücksgefühle verursachen oder die Zufriedenheit steigern können, muss ihnen ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet werden. Und das geht nicht, ohne eigene Zeit zu investieren, denn Empfindungen lassen sich weder automatisieren noch an jemanden delegieren. Zeit ist die knappste Ressource, über die wir verfügen. Trotz aller Fortschrittsorgien ist sie nicht vermehrbar, sondern nach jeder Verwendung unwiederbringlich verloren. Knappheit an individueller Zeit durch „menschliches Multitasking“ überlisten zu wollen – also verschiedene Dinge gleichzeitig zu verrichten –, ist eine Illusion. Neurologen haben längst herausgefunden, dass wir uns bestenfalls auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren können.

Da der Tag nach wie vor nur 24 Stunden hat, die Menge an Dingen und Erlebnissen, die wir uns kaufen können, jedoch geradezu explodiert, konkurrieren sie um die knappe Aufmerksamkeit. Folglich wird jeder Sache und Handlung eine immer geringere Zeitdosis zuteil. Gleichzeitig sitzt uns die Angst im Nacken, etwas zu versäumen, wenn wir uns zu lange mit einem Objekt aufhalten. So wird Konsumwohlstand zur Strapaze, erst recht wenn wir überall mit neuen Optionen konfrontiert werden, die wir zeitaufwändig zur Kenntnis nehmen und über die wir entscheiden müssen. Sogar die Entscheidung, etwas nicht in Anspruch zu nehmen, kostet schließlich Zeit.

Eine weitere Konsequenz überladener Lebensstile besteht im Verlust von Selbstwirksamkeit. Um möglichst viele Dinge in unser Leben integrieren zu können, muss alles in bequemer, vorgefertigter und konsumbereiter Form abgerufen werden. Aber so bleibt kein Raum für eigene Gestaltung oder das Erfolgserlebnis, ein Konsumobjekt eigenhändig erschlossen zu haben und sei es nur durch den eingeübten Umgang, die mühsam erlangte Sachkenntnis oder die Mitwirkung am Zustandekommen eines Ergebnisses. Der Komfort, alles jederzeit mühelos serviert zu bekommen und umstandslos wieder fallen lassen zu können, um sich frei von jeglicher Verantwortung für Verbleib oder Nachsorge sofort dem Neuen zuwenden zu können, hat mehr als nur einen ökologischen Preis. Er unterminiert das Potenzial, angeeignete Dinge mit den materialisierten Symbolen eigener Identität zu versehen. Dazu zählen Spuren der Instandhaltung; eigenhändig vorgenommene Veränderungen sowie Reparaturen; sichtbarer Verschleiß, der auf Erlebnisse oder eine Geschichte des Besitzers verweist; Patina als Ausdruck von Reife und als Verweis auf Vornutzer, zu denen Assoziationen geweckt werden sollen.

Verlernt wird insbesondere, die angeeigneten Objekte instrumentell zu verwenden, um sich daran durch eigene Übung zu verwirklichen, ganz gleich ob auf Basis von manuellem Handwerkszeug, mechanischer Nähmaschine oder per Fahrrad, Angelrute, Segelboot oder Musikinstrument. Wenn Glück bedeutet, sich aktiv, nötigenfalls durch zeitintensives Üben auf das Wesentliche einzulassen, statt in einem Ozean der vielen, aber nur flüchtigen Möglichkeiten zu ersaufen, verlören viele die nötigen Reduktionschritte auf dem Weg in eine „Postwachstumsökonomie“ (Paech 2012) ihren Schrecken. Denn in einem nur halb so großen und teilweise regionalisierten Industriesystem, ergänzt um eine Subsistenzökonomie, wäre für jede erwachsene Person im Durchschnitt noch eine 20-Stunden-Beschäftigung verfügbar. Damit ließe sich nur eine bescheidene Konsumausstattung finanzieren. Aber die freigestellten 20 Stunden böten Spielräume für handwerkliche Ergänzungsleistungen und kooperative Selbstversorgung. Drei Kategorien entsprechender Subsistenzpraktiken lassen sich grob unterscheiden.

  1. Nutzungsintensivierung durch Gemeinschaftsnutzung: Wer die Nutzung von Ge­­­­brauchsgegenständen mit anderen Personen teilt, trägt dazu bei, industrielle Herstellung durch soziale Beziehungen zu ersetzen. Doppelte Nutzung bedeutet halbierter Bedarf. Auch Verschenkmärkte, Tauschbörsen, -ringe und -partys können dazu beitragen.
  2. Nutzungsdauerverlängerung: Wer durch hand­werkliche Fähigkeiten oder ma­nu­el­les Im­­pro­visationsgeschick die Nut­zungsdauer von Konsumobjekten erhöht – zu­weilen reicht schon die acht­same Behandlung, um frühen Verschleiß zu vermeiden –, substi­tu­iert materielle Produktion durch ei­gene pro­duktive Leis­­tungen, ohne auf Kon­sum­funk­ti­o­nen zu ver­zichten. Wo es gelingt, die Nut­zungs­dau­er durch Instandhaltung, Re­pa­ratur, Umbau etc. durch­schnitt­lich zu verdoppeln, könnte die Produktion neuer Ob­jekte ent­spre­chend halbiert werden. Offene Werkstätten, Reparatur-Cafés und Netzwerke des hierzu nötigen Leistungs- und Erfahrungstausches (www.ifixit.com) würden dazu beitragen, ein modernes Leben mit weniger Geld und Produktion zu ermöglichen.
  3. Eigenproduktion: Haus­gär­ten, Dach­­­­gärten, Gemein­schafts­gärten und an­dere Formen der urba­nen Land­wirt­­­­schaft können zur De-Industrialisierung des neuralgischen Nahrungssektors beitragen. Künst­le­rische und handwerkliche Betätigungen reichen von der kre­a­ti­ven Wie­derverwertung ausrangierter Gegen­stän­de – z.B. zwei kaputte Computer ausschlachten, um daraus ein funktionsfähiges Gerät zu basteln – über selbst gefertigte Holz- oder Me­tall­­ob­jek­te bis zur semi­-pro­fes­sionellen Mar­ke „Eigen­bau“.

Moderne Subsistenz bedeutet Autonomie, insbesondere sich durch subversive Taktiken unabhängig(er) von Geld- und Industrieversorgung zu machen. Das Backrezept ist einfach: Industriegüter werden durch eigene Produktion ersetzt oder durch selbsttätige und kooperative Subsistenzleistungen „gestreckt“, um das Potenzial der Bedürfnisbefriedigung einer verkleinerten Produktionsmenge zu vervielfachen. Dazu sind drei Ressourcen nötig: Erstens hand­werkliches Improvisationsgeschick, künstlerische und substanzielle Kompetenzen. Zweitens eigene Zeitressourcen, denn manuelle Verrichtungen, die energie- und kapitalintensive Industrieproduktion ersetzen, sind arbeitsintensiv. Drittens sind soziale Netze wichtig, damit sich verschiedene Neigungen und Talente synergetisch ergänzen können.

Eine derart duale Versorgung steigert die Krisenresistenz und mindert den Wachstumsdruck, weil monetäres durch soziales Kapital ersetzt wird. Mit dem hierzu nötigen Übungsprogramm kann jede/r sofort beginnen. Die Reduktion und Umverteilung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit wäre ein erster Schritt. Kommunale Verwaltungen könnten Anbauflächen, brach gefallene Immobilien und Werkstätten verfügbar machen. Bildung und Erziehung könnten sich stärker an geldlosen Versorgungspraktiken, vor allem an der Vermittlung handwerklicher Befähigungen orientieren. Unternehmen könnten Reparaturkurse anbieten und müssten über politische Maßnahmen von „geplanter Obsoleszenz“ abgehalten werden, damit aus hilflosen Konsumenten souveräne Co-Produzenten und Reparateure werden. Vor allem: Lauert hier nicht jenes Glück, dass uns inmitten maßloser Konsum- und Mobilitätsorgien abhanden gekommen ist?

Niko Paech (*1960) ist Wirtschaftswissenschaftler und als außerplanmäßiger Professor am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg tätig. Er forscht und lehrt unter anderem in den Bereichen Klimaschutz, nachhaltiger Konsum, Umweltökonomik, Sustainable Supply Chain Management, Nachhaltigkeitskommunikation, Diffusionsforschung, Innovationsmanagement und Postwachstumsökonomik. Er gehört dem Vorstand der Vereinigung für Ökologische Ökonomie (VÖÖ), dem Post Fossil Institut (PFI), dem Oldenburg Center for Sustainability Economics and Management (CENTOS), dem Kompetenzzentrum Bauen und Energie (KoBE) sowie dem wissenschaftlichen Beirat von Attac an. Er gehört außerdem den Aufsichtsräten der Oldenburger Genossenschaften OLEGENO und POLYGENOS an.

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