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Hildegard Kurt: „Wir tun uns unfassbar leicht damit, Schwieriges zu ignorieren“

Dr. Hildegard Kurt ist Kulturwissenschaftlerin und Mitbegründerin des »und. Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit e.V.« in Berlin. Mit dem Naturphilosophen Andreas Weber hat sie die ERDFEST-Initiative (seit 2018) ins Leben gerufen. Im Gespräch erklärt sie, wie wichtig eine neue Verbundenheit mit der Natur ist und welche Rolle dabei die Onlinejournalismus-Studierenden der Hochschule Darmstadt spielen.Die haben im Seminar „Natur als medialer Resonanzraum“ im Wintersemester 2018/19 Formate entwickelt, mit denen sich Themen wie Artenvielfalt und Natur in junge Zielgruppen vermitteln lassen – begleitet von den Studien zum öffentlichen Naturbewusstsein und einem Vortrag von Dr. Uwe Krüger von der Universität Leipzig. Er bettete das Kursthema in den Rahmen der Großen Transformation (Folie hier) hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft ein und fragte erstmals öffentlich, inwieweit dazu die journalistische Bewegung für eine konstruktivere Berichterstattung (hier unser Linkdossier dazu) passt.

Frau Kurt, Sie sind Mitinitiatorin der ERDFEST-Initiative und setzen sich in diesem Rahmen für mehr Achtsamkeit im Umgang mit der lebendigen Mitwelt ein. Welche Entwicklung hat dazu geführt, dass es eine Initiative geben muss, um dieses Bewusstsein neu zu schaffen?

Die ERDFEST-Initiative wird vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) gefördert, das seit einigen Jahren regelmäßig eine „Naturbewusstseinsstudie“ erstellt – ein Monitoring des Naturbewusstseins der Bevölkerung. Aus dieser Studie lässt sich ablesen, dass das Naturbewusstsein in Teilen der Bevölkerung wächst, während es in anderen Milieus rapide abnimmt. Zur letztgenannten Gruppe gehören auch die jungen Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren.

Dr. Hildegard Kurt ist Nachhaltigkeitsforscherin, Philosophin und Mitbegründerin der Erdfest-Initiative (Foto: André Wagner)

Warum ist es so schwierig, junge Menschen für das Thema Naturbewusstsein zu interessieren?

Der Jugendreport des Fachgebiets Natursoziologie der Universität Köln von 2016 kam in puncto Naturbewusstsein junger Erwachsener zum gleichen Befund. So etwa gaben auf die Frage, in welcher Himmelsrichtung die Sonne aufgeht, mehr als zwei Drittel der Befragten nicht die richtige Antwort. 2010 lag die Quote richtiger Antworten noch bei nahezu 60 Prozent. Außerdem bekundeten viele der Befragten, das interessiere sie nicht, was natürlich erschreckend ist. Der Jugendreport folgert daraus: Im Zuge allgegenwärtiger digitaler Kommunikation und Unterhaltung richte die Aufmerksamkeit sich zunehmend nicht mehr nach oben und hinaus in die natürliche Mitwelt, sondern nach unten, auf technische Geräte.

Das heißt, dass die uneingeschränkte Informationsvielfalt, die ja durch die Digitalisierung immer angepriesen wird, gar nicht ankommt?

Es fehlt offenbar einfach das Interesse. Was zeigt, in welchem Maße wir uns in Naturferne, Naturentfremdung und Gleichgültigkeit eingerichtet haben. Und dies ausgerechnet in einer menschheitsgeschichtlichen Epoche, in der ein neues, tieferes In-Beziehung-Tretens mit der lebendigen Mitwelt zunehmend überlebenswichtig für uns Menschen wird. Ausgerechnet da wird eine Technik dominant, die es ermöglicht und auch dazu verführt, in eine nach eigenen Wünschen und Vorstellungen gestaltete virtuelle Welt überzusiedeln, anstatt sich mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen der analogen Welt auseinanderzusetzen. Natürlich bietet die Digitalisierung auch fantastische Möglichkeiten für das Voranbringen einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Entwicklung. Zugleich aber übt sie einen enormen Sog aus, durch den einem das real existierende Umfeld leicht gleichgültig werden kann.

Sie haben die Naturbewusstseinsstudie erwähnt. In der Ausgabe von 2017 heißt es: „68 Prozent der Befragten sind davon überzeugt, dass die Identität der Menschheit im Wesentlichen von der Natur bestimmt wird“. In der Theorie scheint das Wissen verankert, wieso handeln die Menschen dann nicht dementsprechend wertschätzend?

Das ist diese seltsame Kluft zwischen dem, was wir wissen und unserem Verhalten. Die rührt nicht zuletzt daher, dass wir in einer Konsum- und Überflussgesellschaft leben, die uns in alle möglichen Bequemlichkeiten hineinmanövriert. Wir sind einer gigantischen medialen Manipulation ausgesetzt – nicht in Richtung eines naturverträglichen Handelns, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Ungeheuerliche Geldsummen fließen in eine Werbeindustrie, die darauf zielt, komplett naturunverträgliche Lebens- und Konsumgewohnheiten zu stärken. So funktioniert unser derzeitiges Wirtschaftssystem.

Welche menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten vermissen Sie im Umgang mit der Natur?

Ich vermisse vor allem Empfindungsvermögen. Das Spüren von dem, was ist. Die Fähigkeit, in Beziehung zu treten zu einem existierenden Phänomen. Ein Beispiel war der Dürresommer im letzten Jahr. Bei uns in Berlin konnte man den Bäumen ansehen, was für einen Stress sie hatten, wie schlecht es ihnen ging. Viele Menschen kommen gar nicht auf den Gedanken, dem Baum vor ihrem Haus einfach mal Wasser zu geben. Wir spüren nicht, dass die Natur Bedürfnisse hat, dass sie ein lebendiges Geschehen ist, dem es auf lebendige Weise zu begegnen gilt. Wir tun uns unfassbar leicht damit, Schwieriges zu ignorieren und zu verdrängen.

Wie kann denn ein naturverbundenes Handeln in der Praxis aussehen?

In unseren Lebenswelten, besonders in der Stadt, brauchen wir mehr Gelegenheiten, in Interaktion zu treten mit allem, was sich als Natur darbietet. Wenn ich Natur nur konsumiere, trete ich kaum wirklich in Beziehung. Es gibt ja inzwischen, verstärkt durch den spürbar werdenden Klimawandel, Bestrebungen, unsere Städte grüner werden zu lassen, zum Beispiel durch Ansätze wie die „essbare Stadt“, das „urban gardening“ oder auch urbane Bienenzucht. Die Grünflächen in einer Stadt müssen nicht auf immer und ewig mit irgendwelchen gesichts- und charakterlosen Pflanzen möbliert bleiben, sondern sie könnten zu Räumen werden, wo ein gemeinschaftliches Kultivieren von etwas Lebendigem erfahrbar wird. Dann würde auch sehr schnell spürbar werden, wie erfüllend ein wirkliches Interagieren mit Natur sein kann, wie glücklich das macht.

Haben Sie an sich selbst Veränderungen in Ihrer Verhaltensweise bemerkt, seitdem Sie sich mit diesen Themen tiefergehender befassen?

Oh ja. Seitdem ich auf diesem Terrain unterwegs bin, kann ich mich immer mehr davon emanzipieren, mein Tun und Arbeiten in den Kriterien von Erfolg oder Misserfolg zu bewerten. Meine eigene Lebendigkeit zu spüren, ihr zu folgen bedeutet, was immer ich gerade tue, mit möglichst großer Präsenz und aufmerkend zu tun und nach Möglichkeit so zu handeln, dass das, was durch mich in die Welt kommt, jeweils in sich stimmig ist, seinen Wert in sich trägt. Das bedeutet auch Scheitern zuzulassen. Es bedeutet, sich von der Vorstellung zu befreien, perfekt sein zu wollen. Perfektion ist Stillstand auf hohem Niveau.

Andreas Weber ist Naturphilosoph, Autor und Journalist. Er ist ein deutscher Vertreter des nature writing und plädiert in seinen Büchern für eine neue Verbundenheit mit der Natur. Aktuell in „Sein und Teilen“: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3527-0/sein-und-teilen

In Ihrem Manifest „Lebendigkeit sei!“ schreiben Sie mit dem Naturphilosophen Andreas Weber: „Im Blick auf eine Zivilisation, die auch wahrhaft human wäre, gebührt dem Kultivieren unserer `Humana´ der Status einer globalen Bildungsaufgabe.“ Unter Humana versteht man spezifisch menschliche Eigenschaften wie Empathie, Friedfertigkeit, Sinn für Maß und Gerechtigkeit sowie die Fähigkeit, in Beziehung zu treten. Inwiefern sehen Sie da Journalisten in der Verantwortung?

Journalist*innen haben natürlich einen eklatanten Beitrag zu leisten, weil sie mitwirken, Reflexion im öffentlichen Raum zu schaffen, zu ermöglichen und zu kultivieren. Sie tragen dazu bei (oder auch nicht), den öffentlichen Raum zu einem Resonanzkörper werden zu lassen, in dem Weltdeutungen und Geschehnisse sichtbar werden und in dem Austausch stattfindet. Insofern sind Journalist*innen aus meiner Sicht in sehr starkem Maß Mitgestaltende dessen, was unsere Identität zu einer bestimmten Zeit und an bestimmten Orten auf der Erde ausmacht.

Sie waren in diesem Semester Kooperationspartnerin im Seminar „Natur und Medien“ bei Prof. Dr. Torsten Schäfer an der Hochschule Darmstadt. Wie und warum kam es zu der Kooperation?

Mein Kollege Andreas Weber war im Kontext des Geo-Magazins publizistisch mit Prof. Schäfer tätig, woraus sich eine anfängliche Verbindung ergab. Als Prof. Schäfer 2018 von der ERDFEST-Initiative erfuhr, leuchtete ihm der Ansatz, nach einem emotionalen Zugang zum lebendigen Sein zu suchen, sofort ein. Und so hat schon im Juni 2018 eine Gruppe von Studierenden im Studiengang Onlinejournalismus bei der ERDFEST-Premiere mitgewirkt, im Internationalen Waldkunstzentrum. Aus diesem Geschehen ergab sich dann die weitere Zusammenarbeit.

Wie sind Sie in der Arbeit mit den Studierenden vorgegangen?

Auf zweierlei Weise: Andreas Weber ist ein wunderbarer Autor und hat journalistisches Nature writing gelehrt. Was natürlich ein sehr spannendes Feld ist. Anschließend haben wir eine kleine Lebendigkeitswerkstatt gemacht, begleitet von mir. Gemeinsam mit den Studierenden haben wir begonnen zu fragen: Wo sehen die Studierenden Ansätze für kreative Strategien, um das Naturbewusstsein ihrer eigenen Altersgruppe zu vertiefen? Das war echt spannend. In der Verbindung von Wissensvermittlung, dem Erwerb von Erfahrungswissen und einem ko-kreativen Gestalten empfand ich die beiden „Werktage“ an der Uni im Oktober und im Dezember als sehr anregend.

Die von Ihnen durchgeführten Lebendigkeitswerkstätten wollen eine neue Verbundenheit mit äußerer und innerer Natur schaffen. Wie können wir uns das vorstellen?

Das Format Lebendigkeitswerkstatt beinhaltet eine Reihe kreativer Strategien, die dabei helfen, sich neu mit der eigenen Lebendigkeit zu verbinden. Seit der Quantenphysik gilt ja als empirisch erwiesen: Wie ein Phänomen sich zeigt, hängt davon ab, wie wir uns ihm nähern. Wenn ich zum Beispiel den Baum vor meinem Fenster als eine Ressource betrachte und mich frage, wie viel Brennstoff es bringt, wenn ich ihn abholze, ist der Baum ein Ding. Ein Rohstoff. Eine Ressource, eine Ware. Wenn ich denselben Baum mit anderen Augen anschaue, ihn nicht taxiere, sondern anfange, ihn als etwas Lebendiges zu betrachten und ihn dann vielleicht frage, „was erfahre ich von Dir?“, fängt dieser Baum an, ein lebendiges Phänomen zu werden. Er ist dann kein Gegenstand mehr, sondern wird zu einem Gegenüber. Zu einem Du. Dieses simple Beispiel zeigt, wie elementar es ist, unser In-der-Welt-Sein zu ent-automatisieren.

So etwas erfordert Offenheit. Welchen Eindruck hatten Sie dabei von den Studierenden?

Die waren zunächst schon ziemlich überrascht über die ungewohnten Prozesse, zu denen sie in der Lebendigkeitswerkstatt eingeladen wurden. Wohlgemerkt gibt es bei dieser Art des Werkens kein richtig und kein falsch gibt. Worum es vielmehr geht, ist, sich mit offenem Geist experimentell auf etwas außerhalb des Gewohnten einzulassen, wie auch Künstler*innen es tun. Weshalb es in einer solchen Werkstatt ganz normal ist, auch mal was Seltsames zu erproben – wie zum Beispiel mit einem verschrumpelten Apfel zu kommunizieren. Ich war sehr berührt davon, wie die Studierenden sich darauf eingelassen haben. Das war wirklich stark. Journalist*innen zählen ja zu einer Berufsgruppe, bei der es sehr darauf ankommt, die eigene geistige Offenheit zu wahren, sie immer neu zu kultivieren. Journalist*innen gestalten unmittelbar das, was man Wirklichkeit nennt, mit und stehen daher auch in der Verantwortung, im eigenen Weltbegegnen so lebendig wie möglich zu sein, um sich überhaupt erst selbst zu befähigen, die lebendige Wirklichkeit wahrzunehmen.

Im Seminar sollten die Studierenden Formate entwickeln, um junge Menschen für Themen wie Biodiversität und Ökosysteme zu sensibilisieren. Dabei entstanden Ideen wie ein ökologisches Camp-Festival oder ein Storytelling-Konzept. Was halten Sie von den entwickelten Formaten?

Ich finde sie klasse. Wir haben alle Ergebnisse dieses Erkundens und Gestaltens auf der Webplattform erdfest.org publiziert. Wir freuen uns wahnsinnig, dass die Storytelling Gruppe ihren Ansatz auf die ERDFEST-Initiative maßgeschneidert hat – ausgehend von der Beobachtung, dass der Social Media Auftritt von ERDFEST noch stark entwicklungsfähig ist. Diese Arbeitsgruppe ist bereit, Ende März zu einem Treffen der ERDFEST-Initiativträger*innen nach Kassel zu kommen und das Konzept vor Ort vorzustellen. Das ist super. Ein solches Ergebnis geht über das hinaus, was wir erwarten durften.

Lässt sich das denn auch umsetzen?

Mir scheint es gut möglich, dass das erarbeitete Storytelling-Konzept von ERDFEST-Initiativträger*innen aufgenommen wird, und ich könnte mir auch vorstellen, dass die Studierenden selbst ihr Konzept im Rahmen der ERDFEST-Initiative umsetzen. Was insofern reizvoll für sie sein könnte, als ERDFEST eine deutschlandweite und darüber hinaus dynamisch wachsende Initiative ist. Wenn ich mich da als Studierende engagiere, tue ich das in einem überregionalen, auf Bundesebene verankerten Kontext, und mein Projekt entfaltet dadurch Resonanz.

Und wie sieht es mit den anderen Strategien aus? Dem ökologischen Camp-Festival zum Beispiel?

Beim ökologischen Camp-Festival berührt mich, dass ganz konkrete Vorschläge gemacht werden, bis hin zu Musikgruppen aus der Region, die für einen Benefizauftritt ansprechbar sein könnten, weil sie sich den Werten dieses Ereignisses verbunden fühlen. Einerseits ist der Ansatz richtig schön utopisch und radikal: ein waschechtes Festival, aber komplett ohne Abfall und Müll, ohne die Natur zu beeinträchtigen. Gleichzeitig scheint mir, so etwas ist inzwischen ganz und gar in Reichweite. Es könnte noch in diesem Jahr Wirklichkeit werden.

Zum Abschluss: Wie und wo werden Sie das Erdfest 2019 verbringen?

Als Klaus Wowereit, ein bekennender Schwuler, Oberbürgermeister von Berlin war, zeigte er sich bei der großen Parade zum Christopher Street Day mit einem Button am Revers, worauf »Mutti von det Janze« stand. So fühle ich mich ein bisschen wie die Mutti der ERDFEST-Initiative und möchte mich deswegen jetzt noch nicht festlegen, wo ich sein werde. Ich will mich verfügbar halten für den Fall, dass ich vielleicht auf einem der Erdfeste wirklich gebraucht werde. Dort will ich dann hingehen und mitfeiern.

Interview: Vanessa Kokoschka

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