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Raus aus dem Gas? Was Studierende denken – Antonia Hirnich (1)

In einer Serie veröffentlichen wir Kommentare der Lehrredaktion „Sternenkreis“, die im aktuellen Sommersemester 2022 zu Europa und der Ukraine-Krise arbeitet. Die Studierenden haben einen Kommentar zur Frage verfasst, ob und wie Deutschland das russische Gas boykottieren soll. Sehr unterschiedlich sind die Meinungen – und Argumente. Folge 1: Antonia Hirnich: „Warum ein sofortiger Stopp keine Lösung ist.“

Kriegsverbrechen, kaum Pressefreiheit, keine Demokratie. Obwohl wir das wissen, kaufen wir seit Jahren russisches Gas, Kohle und Öl. Deutschland stimmte außerdem zu, die Gas-Pipeline Nord Stream 2 zu bauen, die 2021 fertig gestellt wurde. Finanzieren wir mit vergangenen und heutigen Entscheidungen den Krieg gegen die Ukraine? Es sind schwierige Zeiten, die schwierige Entscheidungen fordern. Aber ein jetziger Gasstop ist trotzdem keine Lösung.

Der Druck auf die Bundesregierung wächst, sofort auf russisches Gas zu verzichten. Doch ein sofortiger Ausstieg kann nicht die einzige Antwort sein. Es sind schreckliche Bilder aus der Ukraine, die wir jeden Tag in den Nachrichten sehen. Sie machen wütend und lassen uns scheinbar machtlos zurück. Vor allem die Bilder aus Butscha: Zivilist*innen liegen erschossen auf offener Straße, zum Teil mit gefesselten Händen. Spätestens diese Bilder machten klar: Wir müssen versuchen, diesen Krieg in der Ukraine mit allen Mitteln zu stoppen.

Keine Expert*innen und keine wissenschaftlichen Studien können sicher voraussagen, was ein sofortiges Gasembargo in Russland auslöst. Und ob es das Land wirklich nachhaltig schwächt. Und vor allem so schwächt, dass es Russlands Präsidenten Putin nicht mehr möglich ist, diesen Krieg gegen die Ukraine weiterzuführen. Laut der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ist es hingegen sicher, dass ein sofortiger Stopp des Gasexports die deutsche Wirtschaft zwar schwächen würde, er aber „handhabbar“ wäre. Diese Prognose ist allerdings an Bedingungen geknüpft: Der Staat muss selbst Gas aus anderen Quellen einkaufen, die Speicher schnell füllen, mehr Kohle verwenden. Und der nächste Winter darf nicht zu kalt werden. Viele Faktoren also, die sich ändern können und keine feststehenden Konstanten sind.

Bis zu drei Millionen Jobs hängen am Gas

Viele Politiker:innen, darunter auch Wirtschaftsminister Robert Habeck, reden von einer drohenden „Massenarbeitslosigkeit“ in Deutschland. Bis zu drei Millionen Deutsche könnten durch einen abrupten Gasstopp ihren Job verlieren, Kurzarbeit müsste wieder eingeführt werden. Deutschland liefe einer massiven Überschuldung entgegen. Und die unteren und mittleren Schichten der Gesellschaft leiden schon jetzt unter der enormen Inflation. Spätestens im Winter stellt sich die Frage, wie es sich diese Schichten leisten können, ihre eigenen vier Wände zu heizen. Es geht bei der Entscheidung aber nicht mehr nur darum, welche Konsequenzen dieser Schritt für Deutschland hätte, sondern auch für dessen Hilfe für die Ukraine.

Erst vor kurzem wurde das ukrainische Stromnetz mit dem europäischen Versorgungsnetz verbunden. So soll die Stromversorgung der Ukraine garantiert und stabil gehalten werden können. Wenn die Bundesregierung jetzt also einen sofortigen Ausritt aus russischem Gas beschließen würde, kann sie diese Sicherung nicht mehr garantieren. Denn ohne eine gesicherte Gasversorgung können wir weder unser Stromnetz, noch das der Ukraine stabil halten. Denn aktuell brauchen wir Gas noch, um Strom herzustellen. In dieser Entscheidung muss also auch berücksichtigt werden, welche Folgen diese für die Unterstützung der Ukraine hat. Um die Ukraine mit Rohstoffen versorgen zu können, braucht Deutschland eine intakte Infrastruktur. Die Industrie muss laufen und in der Lage sein, Rüstungsmaterial herzustellen. Dieses Rüstungsmaterial besteht meistens aus Stahl. Zur Herstellung von Stahl braucht es Kohle. Und die Kohle kommt aus Russland.

Die Ukraine leistet beeindruckenden Widerstand gegen Russland. Deutschland hat bisher zwar Waffen geliefert, aber damit nicht das erfüllt, was Ukraines Präsident Selensky forderte. Und vor allem zu langsam. Wichtig wäre, neben der Vorbereitung einer Unabhängigkeit von Russland, die Waffenlieferung zu verbessern. Die Bundesregierung muss Waffen in gleichem Ausmaß wie andere Länder, zum Beispiel Frankreich oder die USA, an die Ukraine liefern.

Es sind schwierige Zeiten, die schwierige Entscheidungen erfordern. Entscheidungen, die sicher nicht immer zu 100 Prozent richtig sein können. Fest steht: Wir müssen die Ukraine unterstützen und solidarisch sein. Alles tun, um diesen Krieg zu beenden. Das muss aber in einem Maße geschehen, dass wir die beschlossenen Sanktionen auch möglichst lange durchhalten. Diese müssen Russland stärker treffen, als sie uns schwächen.

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